Die Irrfahrt durch die fünfziger Jahre meines Lebens ist eingerahmt durch Krisen. Zu Beginn stand die Wirtschaftskrise und ihre Auswirkung, am Ende kam die Corona Pandemie. Krisen begleiteten meine Lebensreise. Sie führte mich durch zwei Jahrhunderte. Später nannte anderen Mitmenschen diese Zeit die große Transformation vom analogen ins digitale Glück. Ich nenne es die Schöpfung meines digitalen Twin.
2012 an meinem 50. Geburtstag war ich auf dem Zenit seines beruflichen Erfolges. Ich hatte alles erreicht. Umgab mich mit Statussymbolen der Macht. Mein Haus, mein Autos mein Boot, meine Familie. Dann ging es bergab und es begann meine persönliche Odyssee Cinquanta. Warum Odysseus?
„Der Odysseus des 21. Jahrhunders wäre gewiss Psychologe und Historiker, ein Mann mit mehreren Köpfen, mit Herz und Seele, verletzt und stark, klug und einfühlsam, mutig
und stolz. Er würde sich für einen tollen Typen halten, andere ihn einen coolen Kerl nennen oder einen Haudegen, einen guten Begleiter oder Freund schimpfen, einen Zechkumpanen und Schachspieler in
ihm suchen und einen Sänger, Poeten und Musiker finden, ganz nach dem Geschmack der Jugend und dem Ton der Zeit, ein Draufgänger und ein Zögerer, ein nachdenklicher Mann, ein Zuhörer und Helfer,
alles in allem jemand mit dem man gerne Zeit verbringen würde, garantiert würde es nicht langweilig werden. Odysseus war kein schlechter und kein törrichter Mann“, so und nicht anders würde ich ihn
beschreiben.
Inhaltsverzeichnis
Angesang 11
Alles geht ins Vergessen 11
1. Lied: When you are old 23
1. Erzählungen sind weiblich 24
2. Konflikte sind männlich 25
3. Liebe und Leid
26
4. Warum?
27
5. Reisen und Räume 28
6. Die Zeit
37
7. Ohne Herkunft keine Zukunft 39
8. Das Rad des Schicksals 41
9. Stichpunkte
47
10. Auf der Suche nach dem Glück 50
2. Lied: Forever Young 53
11. Vaterliebe
54
12. Die Gleichgültigkeit 55
13. Irving, oder wie er die Welt sieht 57
14. Das Montafon 60
15. Warum Odysseus? 66
16. Taedium vitae 67
17. Sisyphos
69
18. Raum-Zeit-Kapseln 77
19. Gerd
75
20. Bulla Puffels 76
3. Lied: Imagine
79
21. Calypso 80
22. Der Wert der Liebe 82
23. Reisen in der Vergangenheit 82
24. Heimat 84
25. Beschleunigung 86
26. Zwillingsgeburten 89
27. Wut
93
28. Tod
95
29. Freunde 96
30. Gelato al limone 100
4. Lied: Das Westfalenlied 107
31. Siebener Schritte 109
32. Holzwege 1 113
33. Drei Maxime 114
34. Alltagshelden 117
35. Reisen ist Heilen 119
37. Pen
120
38. Autobiographisches Schreiben 123
39. Alte Freunde 128
40. Ich bin ein Westfale 130
5. Lied: Eve of Destruction 133
41. Rosenmontag 135
42. Patientenverfügung 154
43. Abschiedsrede 165
44. Ein Brief 169
45. Cornwall 174
46. Newsletter 2026/2017 195
47. Mythen übers Schreiben 198
48. Schreiben 202
49. Knausgård 210
50. Calypso 213
6. Lied: Big in Japan 217
51. Murakami 1 218
52. In die USA 220
53. Business Case für einen Verleger 232
54. Die Unsterblichen 225
55. Europas Zukunft 227
56. Revolutionen 235
57. Außenwelt und Innenwelt 240
58. Die Büchse der Pandora 241
59. Harry Haller 241
60. Zur Ruhe kommen 244
7. Lied: Here comes the sun 251
61. Hemingway und Hesse 252
62. Treibholz 2018 253
63. Die magische Box 265
64. Davos
268
65. Was ist Freiheit? 272
66. Drei Teile der Seele 280
67. Matka 1 281
68. Paris
282
69. Kränkungen 284
70. Murakami 2 285
8. Lied: Senza una donna 289
71. Matka 2 290
72. Das Kapital im 21. Jahrhun 292
73. Das gerechte 20. Jahrhunder 296
74. Die letzten 100 Tage 299
75. Ideen muss man teilen 300
76. Soziale Medien 301
77. Wuhan 307
78. Akhtar 319
79. Das Klima 325
80. Autismus
327
9. Lied: Here comes the rain a 333
81. Joyce
335
82. Loslassen 335
83. Haben wir eine Zukunft? 338
84. Holzwege 2 348
85. Die Sehnsucht und das Heimweh 349
86. Das was bleibt 350
87. Zu früh 356
88. Heimkehrer 356
89. Der Tod des Odysseus 359
90. Das Ende 360
10. Lied: Piano Man 363
91. Mein Dämon 365
92. Stella 365
93. Walser 365
94. Leichtes Gepäck 369
95. Und es geht weiter 369
Abgesang 372
Ein letzter Ton 372
Angesang
„Once upon a time, I dreamt I was a butterfly, fluttering hither and thither, to all intents and purposes a butterfly. I was conscious only of following my fancies as a butterfly, and was unconscious
of my individuality as a man. Suddenly, I awaked, and there I lay, myself again. Now I do not know whether I was then a man dreaming I was a butterfly, or whether I am now a butterfly, dreaming I am
a man. Between a man and a butterfly there is necessarily a barrier. The transition is called Metempsychosis.“
(Chuang Tsu)
Alles geht ins Vergessen
Wer sich nicht erinnern kann, hat keine Heimat. Wer nicht weiß, woher er kommt, hat keine Träume. Wer seine Heimat nicht kennt und seinen Träumen nicht folgt, ist zu bedauern. Er hat etwas zutiefst
Menschliches verloren: seine Seele, die ihm sagt, wo er herkommt, für welche Aufgaben er bestimmt ist, was wahr und falsch ist. Träumen hilft, sich zu erinnern und Verlorenes zu vergegenwärtigen.
Träumen ist ein Gefühl, es ist ein Nachhängen, ein Nachspüren von dem, was war. Träumen hilft gegen das Vergessen. Träume sind ins Positive gewandte Traumata. Träume sind Bestandteil unserer
Schlafphase. Werden wir wach, versuchen wir uns oft an unsere Träume zu erinnern. Träume sind flüchtig, atmosphärisch, anders, aber durchaus real. Offensichtlich besteht ein unbekannter Zusammenhang
zwischen beiden Zuständen unserer Existenz.
Eine merkwürdige Tatsache beleuchtet diesen Zusammenhang. In dem Moment, indem wir Erinnerungen wachrufen, werden sie Stück für Stück verdrängt. Sie werden verarbeitet, formatiert, reorganisiert und lösen sich auf. Sie gehen über in das Vergessen. Vergessen heißt der permanente Aufräumprozess unseres Gehirns. Je mehr Vergangenes wir für die Zukunft bewahren wollen, desto weniger Aufmerksamkeit bleibt für die Gegenwart. Vergessen ist überlebensnotwendig, um die Kapazität der Aufmerksamkeit unserer Sinne auf die Zukunft zu richten. Die verarbeitete Erinnerung oder die vergessene Vergangenheit schafft Platz für etwas Neues - oft für einen neuen Traum, - eine neue Vision unseres Selbst. In unserer Gegenwart befinden wir uns in einem kontinuierlichen Transformationsprozess und das Pendel schlägt zwischen vita activa und vita passiva, zwischen Wachen und Ruhen, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Diesseits und Jenseits. Das Aufschreiben jeder Erinnerung bewahrt einen Teil unserer erlebten Vergangenheit für unser zukünftiges Selbst. Das Reflektieren in der Gegenwart ist ein Reflex der individuellen Wissensbewahrung. Es ist eine ständige Neupositionierung mit der wir Kontakt zu unseren Ahnen und unseren Nachkommen halten.
***
Das menschliche Gehirn ist eine Überlebensmaschine. Es nutzt die Gefühle, um die Erinnerungen zu konstruieren und die Träume und Traumata der Vergangenheit, zu Vorhersagen der Zukunft zu deuten. Es
will sich und seinen Handlungen Sinn geben. Ein Teil unses Selbst kann nicht anders. Diese Aussage deutet an, dass wir mehrere Teile unseres Selbst haben. Unser Gehirn ist nur ein Gaukler. Wir
passen uns reflexhaft seinem Spiel an. Können wir unserem Bewusstsein ein Schnippchen schlagen, die Tricks unserer Wahrnehmung verstehen und hinter den Vorhang auf die Bühne unseres Selbst schauen?
Haben wir gelernt uns selbst zu beobachten und hilft uns der historische Blick oder lähmt uns die tägliche Reizüberflutung und stürmen wir kopflos und paralysiert in Richtung Zukunft, während ein
anderer Teil von uns versucht, sich einen Reim auf alles zu machen? Die größten Auseinandersetzungen finden in uns selbst statt. Uns fehlt nur die Sprache.
***
Ich möchte eine Geschichte erzählen. Sie stellt die metaphysische Frage nach dem wer wir sind, nach unser Individualität und Identität in einen politischen Kontext. Octavian (63 v. Chr. - 14 n.
Chr.), der erste römische Kaiser der Zeitenwende, bekannter unter seinem Ehrennamen Augustus, der Erhabene, der Ehrwürdige, war nicht der erste, aber ein konsequenter Verfälscher der Vergangenheit
zugunsten seiner eigenen Zukunft. Er verhängte über alle seine besiegten Gegner eine offizielle Auslöschung der Erinnerung, die sogenannte damnatio memoriae. Er ließ die Namen seiner Feinde aus allen
Inschriften und Urkunden tilgen. Öffentliche Standbilder seiner Gegner wurden zerstören, ihr Andenken nicht mehr gepflegt, ihr Vermächtnis ausgelöscht. Das Retuschieren der Vergangenheit ist seit
Augustus zu allen Zeiten ein beliebter Akt herrschaftliche Willkür in Europa geworden. Mit militärischer Macht besiegte Octavian seinen Gegner Antonius und beendete den römischen Bürgerkrieg. Aus den
ehemaligen Gefährten waren erbitterte Feinde geworden. Aus Octavian wurde Augustus. Augustus beanspruchte die Deutungshoheit über die Gegenwart, erklärte seinen Mitmenschen die Vergangenheit und
beherrschte damit die Zukunft, die nach seinem Tod am 19. August 14 n. Chr. das Ende der römischen Republik und den Beginn des römischen Kaisertums bedeutete. Was im Kleinen funktioniert, scheint
auch im Großen gut zu laufen.
Ein zweites Beispiel beleuchtet den Umgang mit bewussten Fälschungen: Die katholische Kirche führte mit der Konstantinischen Fälschung die Methode Fake News bereits ins Mittelalter ein. Es war Papst Stephan II., der die Schenkung in der Mitte des 8. Jahrhunderts als politisches Mittel wiederentdeckte, um einen Anspruch auf Gebiete in Mittelitalien zu erhalten und sich so dem neuen Machtzentrum der Karolinger in Mitteleuropa zu empfehlen. Der Betrug festigte die Verbindung zwischen Kirche und Frankenreich. Die Allianz wurde grundlegend für die Ausformung des heutigen Europas und hatte einen Höhepunkt in der karolingischen Renovatio und der Identifikationsfigur Karl des Großen für die europäische Geschichte. Erst sechshundert Jahre später lieferte der Nikolaus von Kues (1401 - 1461) den Beweis, dass es sich bei der Schenkung um eine Fälschung handeln musste. Ein deutlicher Hinweis war, dass der Name Konstantinopel als »Constantinopolitanam« auftauchte. Wäre das Dokument tatsächlich wie behauptet um das Jahr 317 durch Kaiser Konstantin entstanden, hätte nur die Rede von Byzanz sein können. Byzanz, Konstantinopel, Istanbul, drei Narrative. Drei Geschichten. Erinnerungen. Verdrängungen. Inszenierungen. Die Menschen wussten nie, was sie glauben sollten und entschieden sich immer mehr dafür, den empirischen Fakten zu vertrauen als intuitiven Aussagen und Deutungen.
***
Bereits die Griechen kannten die Vorstellung der Damnatio memoriae. Sie nannten sie Atimia, was so viel wie »Schande« oder »Entehrung« bedeutet. In der antiken griechischen Gesellschaft ist die
öffentliche Entehrung eine Form der Bestrafung, die die Aberkennung der Bürgerrechte beinhaltete. Die Atimia hatte zur Folge, dass der betroffene Bürger aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Er
verlor alle seine Privilegien und Rechte und wurde gezwungen, die Gemeinschaft für immer zu verlassen. Die Verbannung ist vielleicht die älteste Form der sozialen Ächtung. Im Unterschied zu Kaiser
Augustus beschloss der Staatsmann Solon (640 v. Chr. - 560 v. Chr.) seine Heimatstadt Athen freiwillig für eine Weile zu verlassen und sich selbst der Atima zu unterziehen, nachdem er gravierende
Sozialreformen erlassen hatte. Er erließ das Gesetz »seisachtheia«, wörtlich der Schuldenabbau oder die Erderschütterung, was in Athen im 6. Jahrhundert so ziemlich das gleiche war. Vergleichen wir
die Wirkung der seisachtheia getrost mit der Finanzkrise 2008 oder dem Doppelwumms von Bundeskanzler Olaf Scholz in Höhe von mehr als 200 Milliarden Euro und seiner verfassunswidrigen
Haushaltsführung im 21. Jahrhundert. Mit dem kleinen Unterschied, dass die politische Verantwortung für den Schuldenabbau in Athen von Solons übernommen wurde. Die politische Verantwortung für die
Finanzkrise 2008 wurde nicht namentlich zugewiesen, sondern systemisch erklärt. Die Verantwortung für die Transformationskosten übernahm der Bundeskanzler nicht, der zuvor Finanzminister war. Im
allgemeinen liege sie bei den Vereinigten Staaten von Amerika argumentiert man und verweist auf das Interesse des amerikanischen Wirtschaftssystems, des Kapitalismus. 1944 in Bretton Woods frühzeitig
für die Nachkriegszeit festgesetzt und am 15. August 1971 durch den damalige US-Präsident Richard Nixon modifiziert, um weiterhin eine führende Rolle auf den Finanzmärkten zu spielen. Die
Modifizierung klang simpel, die Goldbindung des Dollar wurde aufgehoben. Fort Know verlor an Bedeutung. Der Aktienmarkt und der entfesselte Kapitalismus gewann. In der Folge etablierte die
amerikanische Notenbank, das Federal Reserve System kurz FED genannt, das System der Devisenkontrolle durch die Leitwährung des Dollar, der nun losgelöst von jeglichen Sicherheiten gedruckt und in
Umlauf gebracht werden konnte. Die Welt verschuldet sich in Dollar. Ein Kritiker dieser Finanzpolitik ist der ehemalige griechische Finanzminiter Yanis Varoufakis. Seiner These nach hat sich nach der
Finanzkrise im Jahr 2012 ein neuer Cloud Kapitalismus etabliert, der wie der Name sagt, entweder ein Wolkenkuckucksheim sein könnte, auf alle Fälle aber ein Luftschoss ist und ein Währungssystem
stützt, dass Verschuldung durch Devisenabhängigkeiten fördert. Schuldenabbau ist immer eine Erderschütterung. Ich hoffe, mit diesem kleinen Schlenker den Bogen elegant zurück zu Athen schlagen zu
können und möchte noch kurz erzählen, wie es mit dem Staatsmann Solon weiterging. Eigene Vergleiche mit heutigen Staatsmännern anzustreben, ist gewollt.
Die Legende sagt, Solon sei von den Athenern gebeten worden, eine Verfassung zu schreiben, die alle Bürger gleich behandele und eine gerechtere Regierung ermögliche. Die zentralen Fragen innerhalb des attischen Gemeinwesens waren Gleichheit und Gerechtigkeit und sie sind es im globalen Gemeinwesen auch heute noch. Solons Gesetzgebung ist ein Meilenstein auf dem Weg zur abendländischen Demokratie. Er ordnete die sofortige Freilassung aller Schuldnern an, die versklavt worden waren, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten. Sein Gesetz untersagte ab sofort die Verpfändung des Körpers eines Schuldners als Sicherheit für eine Schuld und ordnete die Rückgabe des bereits verkauften Körpers an. Den bereits Versklavten wurde ihr Recht auf Freiheit zurückgegeben. Freiheit wurde neben der Gleichheit und der Gerechtigkeit, der dritte Grundpfeiler in der ersten attischen Demokratie. Das Gesetz zum Schuldenabbau begrenzte die steigende wirtschaftliche Macht der reichen Aristokraten, die auf dem Sklaventum und der Unfreiheit der Versklavten beruhte und verschaffte den ärmeren Bürgern mehr Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Es war eine Revolution.
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Seit der Entdeckung der Perspektive im 15. Jahrhundert denken wir zeitlich linear, weil wir den Raum entdeckt haben. Zuerst auf der Landkarte, danach in der Kunst, dann in uns. Im Raum orientieren
wir uns mit Punkten, die verbunden werden in einer Linie. Erst von A nach B, von B nach C und so weiter. Navigatoren können direkt einen Kurs von A nach C bestimmen. Wer A benennt und B beschreibt,
definiert was C ist. Im 15. Jahrhundert entstand die Koppelnavigation. Sie war die wichtigste Methode der Orientierung auf See. Laufend wurde die Richtung (der Kurs von A nach B) kontrolliert, die
Geschwindigkeit (unter Berücksichtigung von Wind und Strömung) errechnet und die Zeit bestimmt. Der Kurs wurde mit dem Kompass, die Geschwindigkeit mit dem Log und die Zeit mit einer Sanduhr
gemessen. So war es möglich, zu bestimmen, an welchem Ort zu welcher Zeit man sich aufhielt. Heute sind die Techniken ausgefeilter. Navigatoren fliegen, sie leben im Außenraum. Naturwissenschaftliche
Techniken und Methoden helfen uns bei unserer Orientierung in Raum und Zeit. Sind sie aber tauglich, wenn es um die Vermessung unsere eigene Identität geht? Welche Techniken und Methoden kennen wir,
um durch unser Leben und unsere Innenwelt zu navigieren, die Bilder zu deuten, die wir wahrnehmen und die in uns aufsteigen? Welche Bedeutung haben Träume und Traumata für unser Handeln? Welche Rolle
spielt unsere Erinnerung für die Entwicklung unsere Identität? Unser Denken ist verbunden mit der abendländischen Zeitrechnung. In Europa rechnen wir die Zeit nach Christi Geburt und seit dem 15.
Jahrhundert auch rückwärts, vor die Geburt Christi, vor die Zeitenwende. Mit der Zeitrechnung erinnern wir uns täglich an den Gang der Vorhersehung wie sie im christlichen Abendland tausend Jahre
lang gelehrt wurde. Das christliche Denken führt nach der Apokalypse des Johannes direkt in den Untergang, zum jüngsten Gericht und in die Erlösung oder die ewige Verdammnis. So enthalten
Entscheidungen im Diesseits eine Bedeutung fürs Jenseits. Die abendländische Zukunftsvision galt in Europa nicht immer und gilt immer weniger, auch wenn durch die Realität eines Klimawandels, eines
Artensterbens, wenn durch Krieg und Krankheit und künstliche Intelligenz uns eine kommende Apokalypse näher scheint als gedacht.
***
Alles geht ins Vergessen und wird damit gelöscht. Erinnerungen sind subjektiv und werden in unterschiedlichen Milieus unterschiedlich gepflegt. Auch Platon schrieb über das Vergessen. In seinem
Dialog »Phaidon« diskutiert er die Idee der Erinnerung an vergangene Inkarnationen und wie das Vergessen dieser Erinnerungen zur Trennung der Seele vom Körper führt. Mit Platon beginnt der Mythos der
Seelenwanderung, der Seelenverwandtschaft, die zerbrochene Einheit von Mann und Frau in die europäische Ideengeschichte einzuziehen. Platon argumentiert apolitisch. Die Seele existiert bereits vor
ihrer Inkarnation im Körper und alle menschliche Erkenntnis beruht auf der Erinnerung an diese präexistente Zeit. Die konkreten politischen Umstände blendet Platon aus. In seinem Staat sollen die
Philosophen herrschen. Die Seele besitze das Wissen um die Wahrheit schon vor der Geburt. Lernen und Erkennen im Leben sind nur eine Art Erinnerung an dieses präexistente Wissen. Es ist nach Platon
nicht die Frage, was nach unserem Tod sein wird, sondern was vor unserer Geburt passierte. Zukunft und Vergangenheit sind eins. Die Gegenwart unwichtig. Die Seele ist der Kompass für unser Verhalten,
und sie ist der Spiegel unseres Charakters, ihre Ausbildung ist das bevorzugtes Objekt höherer Bildung. Ein äußerst priviligierter Zugang, der nur auf eine kleine Minderheit zutrifft, die sich auf
der Maslowschen Bedürfnispyramide sehr weit oben bewegt.
Bis heute ist der offene, geschmeidige Umgang mit der Wahrheit eine Voraussetzung für den höheren Dienst im Staate. Wer es sich leisten kann, manipuliert, fälscht und lügt. Behauptungen und Dementi sind eingespielte Dialogformen im Schlagabtausch professioneller Propaganda. In diesem Spiel der unterschiedlichen Interessen die Wahrheit zu entdecken und andere davon zu überzeugen, liegt nicht im Interesse der Machtinhaber. Eher ist die Suche nach der Wahrheit ein Interesse der Eingesperrten, der Verbannten und der geflüchteten Eliten. Sollen die Unfreien, die Ungleichen und ungerecht Behandelten sich überhaupt erinnern an ein bessers Leben? Dürfen sie von Utopia träumen oder wollen wir in die Matrix? Ist Erinnerung an das Alte in Zeiten der Krise nicht immer eine Erinnerung an das Gute, an das Bessere? Ist Erinnerung deshalb nicht immer revolutionär?
Erinnerungen an Revoulutionen und Aufstände fordern die jeweiligen Machthaber und ihre Eliten heraus. Die Revolution führt zur Restauration. Es ist ein langsames Fortschreiten des Weltgeistes würde Hegel sagen. Beispiele im Mittelalter sind: 1347 Rienzos römische Revolution, 1413 die Cabochiens von Paris, 1414 die englischen Lollarden, 1419 die Hussiten in Böhmen, dann 1519 die deutschen Protestanten, 1566 die Freiheit für die Niederlande und 1618 der Prager Fenstersturz. Die Moderne übernimmt dann 1776 mit der amerikanischen Unabhängigkeit, 1789 gefolgt von der französischen Revolution, 1848 der deutsche Revolution, 1917 der russische Revolution und 1989 der deutsche Wiedervereinigung. Wir können aus einer reichhaltigen europäischen Geschichte lernen.
Macht und Ohnmacht und ihre Bedeutung in der Zeit sind Meilensteine einer europäische Ordnung. Wollen wir dem Vergessen entkommen? Ist Erinnerungskultur zu anstrengend, zu langatmig, nicht kurzweilig? Fehlt uns die Unterhaltung? Die Geschichte ist voller Beispiele von manipulierten Meinungen, um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Status Quo steht aber in einer fortschreitenden Prozess immer auf verlorenem Posten. Der Vorteil dieser Perspektive liegt dann in der Erinnerungsleistung. Meinungen sind immer interessensgeleitete Aussagen. Und im Laufe der Geschichte sind immer mehr Menschen zu Autoren ihrer eigenen Deutungsgeschichte geworden.
Schriftgelehrte und Sophisten, Journalisten und Medienverantwortliche schreiben und beschreiben die Erzählungen ihrer Zeit. Sie konstruieren, rekonstruieren und dekonstruieren Wirklichkeiten. Die Narrative dienen unserer individuellen Sinngebung. Jedes Buch, jeder Film, jeder Post gibt Orientierung, wie wir uns verhalten sollen. Kommunikatoren inszenieren Wirklichkeiten. Ihre Entwürfe kommen auf die Bühne, auf die Leinwand und in immer kürzeren Abständen durch die Medien in unsere Köpfe. Ihre Botschaften richten sich einzig und allein an unsere Aufmerksamkeit. Unzählige Akteuer wollen unser Zukunft mitgestalten. Wir sollen uns ändern. Die Erinnerungskompetenz einer Gesellschaft definiert den Raum, der für individuelle Entwicklung bleibt. Wenn ich mich nicht mehr erinnern kann, an das was früher war, fehlt mir das Korrektiv, um die Zukunft zu akzeptieren. In den westlichen Demokratien nennt man diesen Erinnerungsraum im Allgemeinen die Freiheit des Einzelnen. In den östlichen Autokratien wird die Freiheit im Namen der Allgemeinheit oder des Kollektivs gefeiert. Benutzen wir unsere Freiheit zum zweifeln und räumen auf mit den Geistern der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die um unsere Aufmerksamkeit buhlen wie unsichtbare Incubi. Fangen wir bei uns Selbst an und fragen uns, analog der cartisianischen Meditationen, was wir wirklich wissen, wo wir stehen, welchen Weg wir bereits gegangen sind und welchen Weg wir noch bereit sind zu gehen. Beginnen wir bei unseren Traumata, erinnern wir und an unsere Träume und finden unsere Heimat wieder, in der wir gemeinsam mit unseren Nächsten leben.
***
Wir wissen so viel und doch wissen wir nicht. Vor 300 Millionen Jahren entstanden die Wälder. Seit 300.000 Jahre hat sich der Mensch an verändernde Umweltbedingungen angepasst. Seit 40.000 Jahren
beackert der Homo Sapiens Felder. Seit der medialen Revolution vor 500 Jahren entwickelten wir unser rationales Bewusstsein durch Wissenschaft und Fortschritt. Seit der digitalen Revolution in den
1990er Jahren beeinflussen wir unser Selbst innerhalb einer Generation. Das wirft die Frage auf, wie anpassungsfähig das Selbst eigentlich ist, wenn wir uns immer schneller verändern? Was wollen wir
behalten, was über Bord schmeißen? Was wollen wir weiter geben? An wen und an was wollen wir uns erinnern?
Zuerst waren es nur phänotypische Veränderungen im 20. Jahrhundert, die die Mitglieder unsere Gesellschaft glücklich machten, nie endende Jugend, größere Brüste, ewige Schönheit. Im 21. Jahrhundert sind wir bereit die Veränderung direkt in unser Gehirn zu lassen. Dabei wissen wir das unser Gehirn ein Gaukler ist. Es geht um das richtige Mindset, um innere Werte, um Sinn, um Vollkommenheit.
Wo ist der Homo Somniator? Ich suche ihn. Wo ist der alte Schamane, der die Verbindung zwischen dem Materiellen und dem Spirituellen beschrieb. Wo ist der Zauberer, der Magier, der Gaukler, das Kind, der Träumer, der Kreative, der Schläfer in uns. Die Archetypen stellt sich die Frage nach unserer Seele in einer seelenlosen Zeit wieder neu. Was wird aus uns? Was ist unser Vermächtnis? Was bleibt? Ist es ist an der Zeit politisch zu werden?
So wie Kaiser Augustus die Damnatio Memoriae für den römischen Erdkreis anordnete, verfügen heute Weltmächte, Superreiche und Corporate Organisations was ihre Bürger und ihre Klientel denken und glauben sollen. Sie bieten ihnen Schutz und eine Heimat und nähren ihre Träume, die aus ihre Interessen erwachsen. Seit 1998 ist in der westlichen Welt Google unser Gedächtnis, seit 2001 ist Wikipedia unser universales Archiv. Seit 2022 ist ChatGPT unser Dialogpartner. Seit 2023 unser Copilot. Wir transformieren unsere Erinnerungen ins Netz, das täglich wächst und lernt. Wir geben, ohne etwas zu bekommen. Wir entfremden uns dem Kollektiv und entleeren uns in individuelle Blasen. Wir gehen freiwillig in die Selbstsvergessenheit und suchen nach Gelassenheit und Selbstentäußerung.
Bevor ich diesen Gedanken vergesse, muss ich mich hinsetzten und meine Geschichte der Odyssee Cinquanta aufschreiben. Es ist meine persöhnliche Irrfahrt gegen das Vergessen und für die Erinnerung.