Es war einmal...
Ein Prolog
Eine Weinbergschnecke braucht eine Stunde um eine Strecke von einem Meter zurückzulegen. Ein Millimeter pro Sekunde. Dabei baut sie sich die Straße, über die sie gleitet, selber. Carlo und Paolo beobachteten die Schnecke ganz genau. Sie saßen auf ihrer Bank, und nach einer Stunde und einem Meter, den die Schnecke währenddessen ihres Weges gegangen war, sprach Paolo sie an. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sie antworten würde. Noch viel weniger hatte er damit gerechnet, dass sein Großvater Carlo sie ebenfalls hören konnte.
Carlo und Paolo sitzen auf einer Bank am Waldesrand und beobachten eine Schnecke.
„Wer bin ich?“
„Du bist das Kind deiner Eltern, der Sohn von Franco und Francesca und Franco war mein Sohn.“
„Großvater, wo sind meine Eltern jetzt, können sie uns sehen?“
„Sie sind vor der Zeit gestorben, aber es geht ihnen gut, und sie wären stolz auf dich. Ich bin mir sicher, dass sie dich beobachten. Immer wenn ich an sie denke, fühle
ich wie nah sie uns sind.“
„Glaubst du das oder weißt du das, Großvater?“
„Ich fühle das.“
„Großvater, woher weiß ich, dass ich etwas weiß?“
„Du weißt etwas, weil du dich an etwas erinnerst, was du einmal gelernt hast. Mit der Erinnerung beginnt jede Geschichte.“
„Aber woher weiß ich, dass das was ich gelernt habe und das was man mir sagt, richtig ist? Wenn ich wie das Dschungelkind in Papua-Neuguinea aufgewachsen wäre und mit
Eingeborenen, mit Kannibalen, mitten im Urwald ohne Internet und Iphone gelebt hätte, was wäre dann?“
„Das was du im Dschungel gelernt hättest, hättest du gebraucht, um im Dschungel zu überleben. Das was du mit dem Iphone und dem Internet lernst, brauchst du, um im
Iphone- und Internetland zu überleben. Mit dem Iphone und dem Internet hättest du im Urwald wohl deine Chancen zu überleben nicht viel steigern können.“
„Du meinst, das was ich in der Kindheit lerne, brauche ich in der Umwelt in der ich groß werde?“
„Das Dschungelkind lernte zuerst die Welt in West-Papua kennen. Es war die Erfahrung in einem Stamm groß zu werden und erst mit 17 Jahren kam es in Kontakt mit anderen
Ländern, anderen Sprachen und anderen Kulturen, das Dschungelkind sah die technische Entwicklung, den Fortschritt, die Eisenbahn, das Automobil und das Flugzeug und fragte sich, was soll ich machen.
Sein Herz schlug für die Eingeborenen, für die Erfahrungen der eigenen Kindheit, aber der Verstand sagte ihm, dass es für seinen Stamm keine Zukunft auf unserem Planeten mehr gibt.“
„Was soll ich lernen, damit ich mich in der Zukunft gut zurecht finde. Hilft mir das, was ich in der Schule lerne, um die Zukunft unseres Planeten zu retten?“
„Die Zukunft des Planeten ist ein großes Wort. Aber es ist auf alle Fälle deine Zukunft, die du meistern musst. Sie ist das was du hast. Das Dschungelkind schrieb ein
Buch über seine Erfahrungen, das Buch wurde verfilmt, anschließend schrieb es weitere Bücher und engagiert sich für das, was es in seiner Kindheit kennen und lieben gelernt hatte. Es hat sein
Schicksal angenommen und seine Lebensgeschichte verarbeitet. Es hat sich gefragt, was mit ihm passiert war, wo es her kam und wohin es ging, das war ein guter Anfang. Das Dschungelkind hat so seinen
Platz und seinen Frieden gefunden.“
„Glaubst du, dass alles irgendwie zusammenhängt. Der Reissack in China, der Flügelschlag eines Schmetterlings am Amazonas und das Schicksal unseres Planeten, das mit
jedem einzelnen von uns verbunden ist?“
„Natürlich glaube ich, dass alles irgendwie zusammenhängt. Ein Zusammenprall verschiedener Kulturen wie im Leben des Dschungelkindes auf Papua ist nichts Ungewöhnliches
in der Evolution. Es ist ein Überleben der Besten oder der am besten angepassten. Zu jeder Zeit ereigneten sich unzählige menschliche Dramen in der Geschichte. In Europa trafen die Römer die
Germanen, die sie für Barbaren hielten. Die Spanier trafen auf die Inkas, die Amerikaner auf die Indianer, überall wo Zivilisationen aufeinander treffen, versucht die überlegene Zivilisation die
unterlegene Zivilisation zu vernichten, zu versklaven und auszubeuten. Je enger wir zusammenrücken, desto mehr sollten wir über die Regeln eines friedlichen Zusammenseins nachdenken.“
„Aber wurde es mit uns Menschen nicht immer besser und entwickelte sich nicht langsam ein gemeinsames Verständnis oder ein gemeinsames Bewußtsein, das wir alle zusammen
gehören?“
„Das ist nicht einfach zu beantworten. Viele Menschen haben darüber nachgedacht. Es ist eine Entwicklung, die vor 2.500 Jahren begann. Mit der geistigen Entdeckung der
Welt beginnt der Kampf um die Ideen und die Identität und um die Zukunft jedes Individuums. Es ist ein andauernder Kampf. Noch im 20. Jahrhundert kämpften die europäischen Nationen gegeneinander und
setzen die Welt in Brand. Heute kämpfen China, Europa und Amerika um die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormacht. Es ist im Grunde der Kampf um die Vorherrschaft auf unserem Planeten. Den
Kompass und die Landkarte in diesem Krieg zu finden, sollte deine erste Lernaufgabe sein. Wenn du dich dafür interessierst, was du glauben sollst und was nicht, ist vieles eine Frage wie man die Welt
sieht, welcher Weltanschauung man folgt. In Europa und dem Westen tobt ein Kulturkampf zwischen dem Christentum und dem Islam, wie dieser Kampf ausgeht, wird auch deine Zukunft im 21. Jahrhundert
bestimmen. Zur gleichen Zeit kämpfen der Osten gegen den Westen und der Norden gegen den Süden um die wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung. Die Auseinandersetzungen haben alle eine
individuelle Geschichte. Sie haben eine Vergangenheit. Die Vergangenheit zu kennen, hilft die Gegenwart zu verstehen, um die Zukunft zu gestalten.“
„Das klingt alles sehr kompliziert. Muss ich erst so alt werden wie du, Großvater, um das zu verstehen?“
„Siehst du die Schnecke da vor uns?“
„Ja. Sie kriecht sehr langsam.“
„Die Schnecke kennt den Weg am besten. Fragen wir sie doch nach der Antwort.“
Ob die Schnecke eine Pause machte, ist schwer zu sagen. So unendlich langsam bewegte sie sich vorwärts. Dann hob sie den Kopf, fuhr ihre beiden Fühler aus und Carlo und Paolo hörten eine Stimme:
„Begebt euch auf eine Reise. Steigt auf mein Schneckenhaus. Ich nehme euch ein Stück mit durch Raum und Zeit. Wohlan, nehmt Abschied und gesundet.“
So begann die erste Woche in den Sommerferien. Paolo hatte alle Zeit der Welt. Carlo sah wie Paolo immer kleiner wurde. Er schrumpfte vor seinen Augen. Dann spürte auch er die Verwandlung. Es war wie eine Erinnerung an seine Kindheit.
Der, die, das Eine
Der, die, das Eine:
„Wir kennen uns nicht. Aber ich schlage vor, dass wir uns Duzen. Ich halte dies für die richtige Ansprache, es macht den Umgang leichter. Ich weiß nicht, ob du mir in den nächsten Minuten und Stunden
folgen willst. Es könnten leicht auch Tage und Jahre daraus werden. Du lebst zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Zeit, die sich selbst den Duktus einer Schnelllebigkeit verpasst hat, und die es
nicht mehr zulässt einem Gedanken zu folgen und ihm nachzuspüren. Du hast doch alles. Warum sollte die Notwendigkeit bestehen, sich auf etwas einzulassen, was länger dauert als einen Augenblick.
Achtung! Dieser Augenblick kann vielleicht ein Leben lang, oder sogar darüber hinaus, andauern. Deshalb möchte ich dir die Gelegenheit geben, selbst zu beurteilen, ob du die Zeit erübrigen willst und
den Einstieg in dieses Abenteuer wagen möchtest?“
„Ein Abenteuer? Um was geht es denn?“
„Es könnte dein größtes Abenteuer werden. Bist du bereit Neuland zu betreten?“
„Ich verstehe nicht.“
„Es geht um Raum und Zeit, um Alles oder Nichts. Es geht um dich - und um uns.“
„Und wer bist du?“
„Ich bin das Eine, in dem alles ist. Ohne mich ist nichts. Außer mir ist nichts. Selbst das Nichts ist ein Teil von mir. Ich bin der Anfang und das Ende.“
„Bist du Gott?“
„Nein, ich bin nicht Gott. Ich bin das Eine.“
„Wo bin ich?“
„Du bist bei mir im Schneckenhaus.“
„Und wo sind wir?“
„Wir sind auf dem Weg. Die Zeit steht still und du bist nicht alleine.“
„Wo ist mein Großvater?“
„Das ist im Moment etwas kompliziert. Ich werde es dir aber nach und nach erklären. Fürs erste sollte es dir reichen, dass ich immer bei dir, in dir und um dich herum
bin.“
„Träume ich? Bist du die Schnecke?“
Paolo drehte sich um. Was er sah, beunruhigte ihn nicht. Es war ein helles Licht um ihn herum. Es war warm, und er fühlte sich plötzlich sehr müde. Er vermisste seine Eltern. Er spürte eine Bewegung hinter sich und drehte sich um. Sein Großvater lächelte ihn an.
„Was ist passiert?“
„Ich glaube, wir sind im Schneckenhaus“, antwortete Carlo. Paolo dachte nach. Es hatte viel Zeit gehabt in
seinem bisherigen Leben nachzudenken. Vor allem über den Verlust und den Tod seiner Eltern. Er hatte es nicht verstanden. Warum er? Sein Großvater kümmerte sich um ihn. Wo war
er?
Dann sagte die Stimme.
„Wenn du keine Zeit hast, danke ich dir von ganzem Herzen für deine Freundlichkeit. Ich weiß, du musst nun weiter. Habe kein schlechtes Gewissen, belaste dich nicht, du liegst mit deiner Entscheidung im Trend.“
„Ich will aber nicht das tun, was alle tun. Wie bist du auf mich gekommen?“
„Du hast mich gefunden. Du bist jung und neugierig. Du willst die Welt und dein Selbst verstehen. Beides sind starke Antriebe, die während deines Lebens immer wieder
aufbrechen und die festgesetzten Lebenskreise stören. Ich bin der Störfall in deiner Welt und ermögliche dir eine Auszeit. Ich biete dir einen Raum und Sicherheit. Aber sei gewarnt. Es ist ein
Risiko, sich auf das Eine einzulassen, weil alles andere damit verschwindet. Außerdem wirst du morgen sieben Jahre alt. Es ist Zeit, die Welt zu entdecken.“
„Wenn ich mit dir gehe, wird es mich verändern. Ich habe etwas Angst davor.“
„Wenn du bereit bist, Zeit zu investieren, wird es sicherlich dein Leben verändern. Alles was du tust, wird dich auf deinem Weg zu mir begleiten. Warte ab, im Laufe
unserer Unterhaltung wirst du mit verschiedenen Personen sprechen, die mich ebenfalls kennen gelernt haben. Sie suchten nach Sinn und fanden mich. Jeder erzählt seine Geschichte, er stellt sich vor
und erklärt seine Sicht der Welt. Und mein Geburtstagsgeschenk an dich ist, dass du ihnen Fragen stellen kannst, so viel du willst. Du wirst auf unserer Reise viele Menschen treffen und ihre
Meinungen hören, die alle zu unterschiedlichen Zeiten gelebt haben.“
„Kann ich mir auch Gesprächspartner wünschen?“
„Ja, natürlich. In mir ist alles und ich werde es dir zeigen. Ich schlage vor, du suchst dir einen Platz, an dem Du gerne Zeit verbringst und ungestört bist. Es darf
ruhig ein bequemes Versteck sein. Hör zu. Lies und schlage nach, wenn du etwas nicht verstehst. Fühle dich in mir geborgen.“
„Dann würde würde ich gerne mit meinen Eltern sprechen und anschließend mit Harry Potter.“
Der, die, das Andere
Der, die, das Andere:
„Halt, warte! Wenn es das Eine gibt, muss es doch auch das Andere geben. Ich glaube, wir können uns nur ein Bild von der Wirklichkeit machen, indem wir Gegensätze zulassen und indem wir versuchen,
die Gegensätze in etwas Neues zu verwandeln. Die Alten sprachen schon von dem Einen gegenüber dem Vielen, von dem Einen im Vielen, man war einer unter Vielen. Das Denken entwickelte sich erst durch
den Gegensatz und durch mich, durch das Andere.“
„Aber auch das Andere ist doch ein Teil des Einen, wenn ich es richtig verstanden habe.“
„Die ersten Menschen in unserem Kulturkreis, die sich über diese Frage den Kopf zerbrachen, waren die Griechen. Sie haben erstaunliches gedacht. Sie kannten viele Götter
und liebten das Andere, aber ihr Denken wurde verteufelt und verboten, sie wurden im Laufe der Zeit vergessen und die Menschen haben sich Zug um Zug für das Eine entschieden, weil es einfacher war
und die Menschen das Andere und das Viele nicht erfassen konnte. Es war zu groß, zu komplex und zu schwierig. Die Betrachtung eines Teiles und die Betrachtung des Ganzen schließen sich meistens aus.
Aus diesem Widerspruch entsteht der Antrieb des philosophischen Denkens.“
„Wo wollen wir anfangen?“
„Das ist egal. Jeder Weg führt ans Ziel. Wir sind schon unterwegs. Wichtig ist anzufangen. Alles was einen Anfang hat, hat auch ein Ende.“
Die Geschichte unserer Spezie im Zeitraffer
Alles fing an vor 75.000 Jahren: Der Homo sapiens ist nach dem Aussterben der Neandertaler vor 24.000 Jahren und des Homo floresiensis vor 18.000 Jahren die einzige überlebende Art der Gattung Homo,
was lateinisch ist und einfach nur Mensch bedeutet. Die beiden ältesten Arten der Gattung Homo sind Homo rudolfensis und Homo habilis. Sie sollen vor rund 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren gelebt haben.
Nach der Theorie des genetischen Flaschenhalses erlitt der moderne Mensch den für seine Existenz bedrohlichsten Rückgang seiner Bevölkerung vor 75.000 Jahren, als sich nach dem Ausbruch des
Supervulkans Toba auf Sumatra weltweit nur 1.000 bis 10.000 Personen retten konnten. Danach verbreitete sich der moderne Mensch von Afrika aus über alle anderen Kontinente. Bis zum Ende der letzten
Kaltzeit vor 10.000 Jahren lebten dann etwa 5 bis 10 Millionen Menschen weltweit.
Machen wir einen Sprung in das Jahr Null unserer Zeitrechnung, der Geburt Jesu Christus. und nach Schätzungen der UNO gehen wir davon aus, dass ungefähr 300 Millionen
Menschen die Erde bevölkerten. Das Römische Reich soll zu Beginn unserer Zeitrechnung 57 Mio. Menschen gezählt haben, das Chinesische Reich 75 Mio. Einwohner.
Um das Jahr 1000 lebten 250 bis 350 Mio. Menschen, die UNO nimmt 310 Mio. an. Nach diesem Stillstand der Bevölkerungsentwicklung im ersten Jahrtausend unserer
Zeitrechnung begann das Wachstum im Hochmittelalter erneut, erlitt im Spätmittelalter jedoch Einbrüche durch Pest, Pocken und andere Seuchen.
Vor 500 Jahren betrug die Weltbevölkerung 425 bis 540 Mio. Menschen, die UNO geht von 500 Mio. Menschen aus. Im Laufe des 16. Jahrhunderts soll die amerikanische
Bevölkerung (Indianer) durch eingeschleppte Seuchen von etwa 50 Mio. auf 5 Mio. zurückgegangen sein, während in Europa und Asien die Bevölkerung weiter zugenommen hat. Das weltweite Wachstum stieg im
18. Jahrhundert dauerhaft über 0,5 % im Jahr und Mitte des 20. Jahrhunderts sogar über 2 %, so dass man von einer Bevölkerungsexplosion sprechen kann.
Nach dem Jahr 1700 setzte ein rapides Bevölkerungswachstum ein und erstmals in der Menschheitsgeschichte lag die Verdopplungszeit im Bereich von Jahrhunderten. Um das
Jahr 1800 überschritt die Weltbevölkerung erstmals eine Milliarde Menschen. Innerhalb des 20. Jahrhunderts hat sich die Weltbevölkerung fast vervierfacht.
1927 = 2 Milliarden Menschen
1960= 3 Milliarden Menschen
1974 = 4 Milliarden Menschen
1987 = 5 Milliarden Menschen
1999 = 6 Milliarden Menschen
2011 = 7 Milliarden Menschen
2020 = 7,7 Milliarden Menschen
Bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich rund 80 Millionen Menschen steigt die Zahl der Erdenbürger jeden Tag um fast 220.000 und in jeder Minute um über 150
Menschen. Um 1800 lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Weltbevölkerung bei höchstens 30 Jahren. Die häufigste Todesursache waren Infektionskrankheiten. Im Jahr 2000 ist die Lebenserwartung
bei steigender Weltbevölkerung auf 67 Jahre gestiegen. Laut der Sterbetafel 2018/2020 liegt die Lebenserwartung in Deutschland bei Frauen bei 83,4 Jahren und bei Männern bei 78,6.
Jahren.
„Stimmt es, dass die Zahl der jetzt lebenden Menschen größer ist als die Zahl der bereits verstorbenen? Diese "Tatsache" wird oft von Leuten verbreitet, die entsetzt
sind über die heutige Bevölkerungsexplosion.“
„Der Bevölkerungsforscher Herwig Birg von der Universität Bielefeld hat im Jahr 1990 ausgerechnet, das die Zahl der Toten größer ist als die der Lebenden. Er nahm die in
der Wissenschaft gängigen Zahlen für die Entwicklung der Weltbevölkerung, multiplizierte die Zahl jedes Jahres mit der ebenfalls geschätzten Geburtenrate und kam zu dem Ergebnis, das bisher 81
Milliarden Menschen geboren wurden. Davon leben rund 6 Milliarden, 75 Milliarden sind tot. Von den Toten entfallen 40 Milliarden auf die Zeit nach Christi Geburt und 35 Milliarden auf die vielen
Jahrtausende davor. Den Fehler seiner Rechnung schätzt Birg auf maximal 15 Prozent. Es ist für diese Rechnung übrigens egal, wann man die Geburt des Homo sapiens ansetzt - die wenigen Tausend
Menschen, die in der Steinzeit lebten, fallen kaum ins Gewicht.“
„Haben die 75 Milliarden Seelen ein zu Hause? Sind sie Teil des Einen? Sind sie in mir?“
„Mit dem Konzept der Seele und der Unsterblichkeit der Seele, entwickelte sich das menschliche Vorstellungsvermögen. Erst mit der Frage nach der Seele und dem Kern
desjenigen, was einen Menschen ausmacht, beschäftigte sich der Mensch mit sich, der Welt und dem Bewusstsein.“
„Woher kommen diese Menschen? Wohin gehen sie?“
„Das weiß keiner, vielleicht sind sie Teil des Einen oder des Anderen, auf alle Fälle ist die Evolution der Menschen verbunden mit den Fragen über das Selbst, die Seele
und die Beschaffenheit der Welt. Der Mensch ist das einzige Wesen, das eine Aufklärung über seinen eigenen Zustand verlangt.“
Die alte Welt
Die Vorsokratiker
„In der Schule lerne ich, dass unsere Kultur mit den Griechen beginnt. Stimmt das?“
„Ja. Sie sind uns ähnlich und doch völlig unterschiedlich. Sie sind Mittler zu noch tiefer in der Vergangenheit liegenden Kulturen, der Kultur Ägyptens, die die
Schreibkunst um 4.000 v. Chr. erfunden hat und der Kultur Mesopotamiens, die die Sprache der Magie, der Weissagung und der Astrologie entwickelte, um die Welt zu deuten, die den Tag in 24 Stunden und
den Kreis in 360 Grad einteilte. Anschließend wird Kreta zwischen 2.500 und 1.400 v. Chr. die nächste bedeutende Kultur sein, gefolgt von der minoischen Kultur um 1.600 bis 900 v. Chr. Auf dem
Festland entwickelte sich die Kultur der Mykener, dann die der Ionier und der Achäer und zuletzt die Kultur der Dorer, die die mykenische Kultur zerstörten. Wie Zwiebelringe legten sich diese
Kulturen in und um den Mittelmeerraum und sind nur durch Fragmente erhalten.“
„Was ist an den Mittelmeerkulturen und den Griechen so wichtig?“
„Im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. erreichte mit dem Dionysoskult eine starke religiöse Strömung vom Osten kommend Griechenland. Es ist sehr wahrscheinlich, das die
Quelle des Kultes in Indien zu suchen ist. An dieser Ost-West-Verbindung kann man sehen, wie eng Europa mit Asien verbunden war und ist. Die Griechen belegten diesen neuen Erlösungsmythos mit dem
Namen des Sängers Orpheus, der in Thrakien gelebt haben soll, dem heutigen Bulgarien. Den Kern dieser orphischen Mysterien und des Dionysoskultes bildete die indische Seelenwanderungslehre. Diese
stellte die bisherige Lebensanschauung der Griechen buchstäblich auf den Kopf. Bisher hatten sie geglaubt, dass der Mensch von Fleisch und Blut in seiner Körperlichkeit der wirkliche Mensch sei, die
Seele sei nur ein schemenhaftes flüchtiges Abbild. Ebenso sei das diesseitige Leben das wirkliche Leben, das jenseitige nach dem Tod nur ein bewusstloses Hindämmern. Die Mysterienlehre des Orpheus
behauptete nun das genaue Gegenteil: das Ewige und Dauernde am Menschen sei die Seele, die nur infolge einer Schuld auf lange Zeit in der Körperwelt verbannt sei, um in einer Reihe von Entkörperungen
und Wiedergeburten, unterbrochen durch läuternde Strafen im Hades, allmählich wieder den Weg zurückfindet in das selige Reich der Geistwesen.“
„Wie haben die Menschen auf diese neue Lehre reagiert?“
„Verstört und begeistert. Sie suchen immer noch nach der richtigen Antwort. In der religiösen Krise des 6. Jahrhunderts eröffneten sich dem Griechen, der nach einer
tieferen Welt- und Lebensanschauung suchte, zwei Wege: entweder die Mystik mit ihren Offenbarungen und dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele oder ein rationales, vernünftiges Denken und
wissenschaftliches Forschen, ein ewiges Zweifeln und Entdecken der Welt mit dem Wissen um die Endlichkeit allen Seins. Er konnte sich entscheiden.“
„Welchen Weg sind die Griechen gegangen?“
„Jeder Mensch darf sich individuell entscheiden. Aber natürlich probierten die Griechen beide Wege aus und gingen dabei noch einige Umwege. Sie gingen in Sackgassen und
stolperten über Holzwege, aber durch ihr mutiges Vorangehen entwickelten die Griechen die Grundlagen der abendländischen Philosophie. Als Ergebnis ihrer Suche folgten die meisten Philosophen langsam
vom Weg des Logos und nicht dem Weg des Mythos.“
„Ist dann die Entdeckung der Vernunft das Verdienst der ionischen Philosophie?“
„Entstanden als rationale Naturphilosophie und aus der Beobachtung der Welt heraus, wandten sich immer mehr griechische Denker der Frage nach dem Ursprung der Welt zu
und fragten: Was ist der Grundstoff aller Dinge? Wie immer gab es mehrere Antworten und die beiden konkurrierenden Weltanschauungen lassen sich mit den Namen Parmenides und Heraklit verbinden, du
wirst sie noch treffen. Es ist aber wichtig, dass keiner der beiden an die Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung glaubte. Sie waren sich einig, der Schein trügt. Die indischen Lehren wiesen einen
anderen Weg. Sie sagen, dass sich die Seele in der Meditation und der Versenkung reinigen kann, um so die Anzahl der Reinkarnationen und den Kreislauf der Leiden und der Wiedergeburten zu verkürzen
und schneller wieder ein Teil des Einen oder des Andren zu werden.“
„Ich darf mich entscheiden, weiß aber noch nicht wozu. Wie ging es mit den Griechen weiter?”
„Begonnen hat die griechische Philosophie im Osten mit der Schule von Milet in der heutigen Türkei und einem Mann mit Namen Thales.“
Paolo ritt auf der Schnecke durch die Zeit und erinnerte sich an seine Eltern. Es war wieder einmal spät geworden als Franco und Francesca ihre Eisdiele verließen. Die Sonne hatte den ganzen Tag geschienen und viele Kinder standen Schlange, um sich ein Eis in der Eisdiele zu kaufen. Paolo war zwei Jahre alt und lebte bei seinem Großvater, aß mit ihm zu Abend und bereitet sich auf die Nacht vor.
„Lass uns schnell nach Hause fahren“, sagte Francesca. „Ich bin müde. Es war ein langer Tag und ich möchte Paolo gerne noch vor dem einschlafen sehen.“
„Ja, ich will ihm noch eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen“, erwiderte Franco.
Franco öffnete die Tür des Eiswagens, beide stiegen ein, und Franco startete den Diesel des Lieferwagens mit dem Aufdruck »Italienisches Eis«. Mittlerweile war die Sonne untergegangen und als sie auf
die Autobahn auffuhren, war es bereits dunkel. Die Autobahnen sind zu jeder Tageszeit, egal ob morgens, abends oder nachts immer befahren. Als Franco in den Klärschlamm fuhr, den ein vorausfahrender
LKW verloren hatte, war es zu spät. Er konnte nicht mehr reagieren, und sein Fahrzeug drehte sich mehrmals auf der Fahrbahn und überschlug sich.
Die Polizei sagte später, dass bei der Massenkarambolage auf der Autobahn acht Personen getötet und zahlreiche Schwerverletzte in die umliegenden Krankenhäuser gebracht worden waren. In dem Eiswagen
wurden Franco und Francesca tot geborgen. Paolo war noch klein, aber groß genug um den Schmerz in seinem Herzen nie mehr zu vergessen. Wenn er an seine Mutter dachte, erinnerte er sich an ihr Lachen.
Wenn er an seinen Vater dachte, hörte er Geschichten, die sein Vater ihm abends erzählt hatte. Immer wenn er Zeit hatte, nahm sich Franco ein Buch und las. Ihn interessierte die Philosophie und er
konnte mit Begeisterung die alte Geschichte zu neuem Leben erwecken. „Die Philosophiegeschichte beginnt“, sagte er, „mit Thales von Milet.“
Thales (624 – 547 v. Chr.)
„Über mich wird viel erzählt, oft ist es der Neid, der aus den anderen spricht. Das meiste, wenn nicht alles, ist eine glatte Lüge. Glaub keinem! Frauen sollen über mich gelacht haben, weil ich nicht
ihren Reizen erlegen war. Sie haben mich aber einfach nur gelangweilt, das war nichts Ungewöhnliches und ist sicherlich für den einen oder anderen nachvollziehbar.“
„Neid muss man sich hart erarbeiten und wenn du keine Frauen mochtest, sondern vielleicht nur Männer, so ist das heute in Deutschland kein Problem mehr, in der Türkei
schon.“
„Ich bin meinem Schicksal für drei Dinge dankbar: Erstens dass ich als Mensch und nicht als Tier geboren bin, zweitens dass ich als Mann und nicht als Frau geboren bin,
drittens dass ich als Grieche und nicht als Nichtgrieche geboren bin.“
„Das ist eine klare Meinung, die man heute in einem demokratischen Rechtsstaat so nicht mehr äußern würde. Viele würden es nur denken. In der Sprache des 21.
Jahrhunderts wärst Du damit ein Macho, ein Sexist und ein Chauvinist. Drei Bezeichnungen über die man besser schweigen würde, wenn man sich nicht unbeliebt machen möchte.“
„Das könnt ihr halten, wie ihr wollt. Wenn jemand wie ich sich zu Wort meldet und eine Meinung vertritt, muss ich mit heftigen Reaktionen rechnen. Einmal als ich mich
mit astronomischen Beobachtungen beschäftigte und dabei nach oben in den Himmel blickte, bin ich in einen Brunnen gefallen. Darüber hat eine sehr hübsche thrakische Magd gelacht und mich verspottet:
Ich strenge mich an, die Dinge im Himmel zu erkennen, von dem aber, was mir vor Augen und vor den Füßen liege, habe ich keine Ahnung. Sie meinte natürlich sich selbst damit und nicht den Brunnen. Der
Brunnen hat mich aber zu zwei erstaunlichen Erkenntnissen gebracht. Er war mein Fernrohr in den Himmel. Die Begrenzung des Brunnens war hervorragend dazu geeignet die Bewegung der Sterne zu
beobachten, da man mit den Rändern des Brunnens zwei Fixpunkte hatte, über die sich die Sterne bewegten. Ohne Grenzen, keine Bewegung und kein Fortschritt. Veränderungen stellt man am besten in
Grenzbereichen fest, deshalb empfehle ich jedem seine Grenzen zu erforschen. Diese Erkenntnisse verdankte ich dem Zufall, meiner Beobachtungsgabe und meiner Standfestigkeit den gut aussehenden
thrakischen Frauen gegenüber.“
„Der Sturz in den Brunnen hatte bei dir offenbar einen guten Ausgang. Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen.“
„Ja, da ist er wieder dieser Spott. Es ist die gleiche Respektlosigkeit, die auch die schöne Trakerin ausgezeichnet hat. Aber schenkt das Leben dir Zitronen, mache
Limonade aus ihnen.“
„Hattest du Durst?“
„Natürlich, wenn man einen Tag und eine Nacht auf dem Boden eines Brunnens verbringt, ist es nichts ungewöhnliches, durstig zu werden. In dem Brunnen hatte ich aber
noch eine weitere Erkenntnis, die ich nicht verheimlichen will. Ich muss dazu sagen, dass der Brunnen ausgetrocknet war und weil ich irgendwann großen Durst bekam wurde mir klar, dass das Wasser der
Grundbaustein des Lebens ist. Alles ist aus Wasser entstanden.“
„Wie bist Du wieder aus dem Brunnen gekommen?“
„Ich muss gestehen, dass mich am nächsten Tag wieder die Frauen auf ihrem Weg gefunden und gerettet haben. Ich habe ihnen also alles zu verdanken.“
„Das ist ein schönes Bild, wenn ich mir vorstelle, wie Du in der Nacht in dem Brunnenschacht gelegen hast. Der Popstar von Milet am Boden zerstört.“
„Als man mir wegen meiner Armut den Vorwurf machte, dass meine Philosophie zu nichts tauge, habe ich kurzerhand aufgrund meiner mathematischen und astronomischen
Kenntnisse vorausgesehen, dass die nächste Olivenernte sehr reichlich sein würde. Noch im Winter mietete ich mit dem wenigen Geld, das mir zur Verfügung stand, sämtliche Ölpressen in Milet und Chios
zu einem ziemlich niedrigen Preis. Als dann die Erntezeit gekommen war und auf einmal und zur gleichen Zeit die Nachfrage nach den Ölpressen stieg, habe ich meine Pressen so teuer verpachtet, wie ich
konnte, und auf diese Weise sehr viel Geld verdient. Für einen Philosophen ist es ein Leichtes, reich zu werden, wenn er dies nur will, aber materieller Reichtum ist nicht das, was ein Philosoph
erstrebt.“
„Warum nicht? Ist ein sorgenfreies Leben nicht die beste Voraussetzung für eine philosophische Tätigkeit? Ein gutes Leben schließt doch einen guten Gedanken nicht
aus.“
„Natürlich, Armut schafft keine Zufriedenheit. Reichtum aber auch nicht. Die Zufriedenheit ist ein Zustand deiner inneren Ausgeglichenheit. Jemand wollte einmal von mir
wissen, ob der Mensch von Gott unbemerkt Böses tun könne.“
„Eine gute Frage!“
„Vor einem einzigen Gott kann man nicht einmal in Gedanken etwas Böses verheimlichen, vor mehreren Göttern ist dies schon leichter, war meine Antwort, die mir auch heute
noch gefällt. Deshalb verehren wir Griechen auch mehrere Götter.“
„Was ist für dich göttlich?“
„Das Göttliche ist, was weder Anfang, noch Ende hat. So nun muss ich mich aber beeilen, du hast mich schon sehr lange aufgehalten.“
„Warte! Ich habe noch einige Fragen.“
„Nun gut, aber beeile dich.“
„Wie kann ich mich selbst erkennen und wissen was ich will?“
„Es ist sehr schwierig sich selbst zu erkennen, - auch ohne in ein Loch zu fallen. Es ist leichter einem anderen einen Rat zu geben als sich selbst im Spiegel zu
betrachten.“
„Was ist das Angenehmste im Leben?“
„Das Angenehmste ist Erfolg zu haben.“
„Wie kann ich mein Unglück am Besten ertragen?“
„Wenn du deine Feinde in noch schlimmerer Lage siehst.“
„Wie kann ich am besten ein gutes und gerechtes Leben führen?“
„Indem du, was du an anderen tadelst, selbst nicht tust.“
„Wer ist glücklich?“
„Wer körperlich gesund ist, reich an geistigen Gaben und von wohlerzogenem Wesen.“
„Was kann ich Gutes tun?“
„Mir keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Kümmere und sorge dich um deine Freunde, egal ob sie zugegen sind oder nicht. Sei nicht eitel und gebe nicht mit deinem
schönen Äußeren an, sondern zeige in deinem Verhalten Schönheit; bereichere dich nicht durch Unrecht und lass dich nicht durch das Gerede anderer gegen jene einnehmen, die dein Vertrauen haben. Von
deinen Kindern kannst du die Hilfe erwarten, die du selbst deinen Eltern gegeben hast.“
„Danke, für die Tipps.“
„Keine Ursache, sie werden dir nichts nützen. Weißt du, was man ganz selten sieht?“
„Nein.“
„Ganz selten sieht man einen alten Tyrannen und einen jungen Philosophen. Wie alt bist du eigentlich?“
Anaximander (610 – 547 v. Chr.)
„Ich bin ein Zeitgenosse und Schüler von Thales, und von mir existiert nur ein Satz, da ich immer versucht habe meine Aussagen kurz und knapp zu halten. Ich habe viel nachgedacht über die Frage nach
dem Ursprung aller Dinge. Sie hat mich sehr beschäftigt.“
„Was hast Du denn gesagt?“
„Warum bist Du so neugierig, kleiner Mann? Ich bin mit meinen 64 Jahren nicht mehr der Jüngste. Außerdem bin ich der erste griechische Philosoph überhaupt, von dem ein
schriftlich gefasster Satz überliefert ist.“
„Also bitte, was hast Du gesagt?“
„Alle Dinge entstammen einer Ursubstanz, die zeitlich und räumlich unbegrenzt ist und alle Welten in sich einschließt.“
„War das dein Satz der Erkenntnis über den Du ein Leben lang nachgedacht hast?“
„Ja, eigentlich lautete er: Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander
Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“
„Das verstehe ich nicht, warst Du immer so ungenau?“
„Das liegt an der Übersetzung vom Griechischen ins Lateinische und vom Lateinischen in Deutsche. In unserer Sprache haben die Worte oft mehrere Bedeutungen. Du kannst
Dir dann den Sinn selber aussuchen.“
„Du gehst von einem Anfang aus, der aber zeitlich nicht begrenzt ist, das gibt es doch gar nicht, das ist doch ein Widerspruch in sich selbst.“
„Das ist so wahr, dass es nur falsch sein kann. Wir nennen das ein Paradoxon. Ein Paradoxon ist eine Meinung, die scheinbar oder tatsächlich einen Widerspruch enthält.
Ich gebe Dir ein Beispiel: Das einzig Beständige ist die Veränderung. Oder: Das Leben ist der Tod, und der Tod ist das Leben.“
„Du benutzt komische Worte: Was ist die Ursubstanz, was meinst Du mit Buße und Ungerechtigkeit. Darüber werden deine Schüler noch lange nachgedacht haben. Wenn ich Dich
richtig verstehe, lautet Dein Satz so wiedergeben: Aus der Substanz aus der das Lebende entsteht, dahin wird es auch vergehen, denn das Werden und Vergehen bedingen sich. Stimmt das?“
„Und wieder hat die Sprachmaschine sich einen Satz ausgedacht. So haben es meine Schüler auch gemacht. Jeder hatte nachher einen eigenen anderen Satz. Dabei ist alles
ganz einfach: Alles muss einen Anfang haben und auch doch keinen. Der Anfang und das Ende sind gleich. Ohne Zeit und ohne Raum. Das Entstehen der Welt beruht auf diesen Regeln, nenne es
Notwendigkeiten oder Prinzipien. Das was wir nicht kennen, steht aber in Verbindung miteinander, es tauscht sich aus und verändert sich in der Zeit. Ich muss nun weiter, denk darüber nach, dann wirst
Du schon zu deiner Lösung kommen.“
„Ich kann mir vorstellen, dass Deine Aussagen zur Ursubstanz heftig diskutiert wurden. Denn ausgehend von den Substanzen, die man kannte und die in den vier Elementen
vorkamen, wird sich immer jemand gefunden haben, der entweder die Luft, das Feuer, die Erde oder das Wasser favorisierte oder eine Ursubstanz vor den Elementen.“
„Das ist nicht mehr meine Sorge. Aber es gab da jemanden, der glaubte alles bestehe nur aus Luft. Frag doch mal Anaximenes.“
Anaximenes (585 – 528/524 v. Chr.)
„Ich habe die erste Landkarte entworfen und lebte vor 494 v. Chr., ich weiß es so genau, weil in dem Jahr Milet von den Persern zerstört wurde. Hätten sie Milet nicht 494 v. Chr. zerstört, wäre die
Stadt an der kleinasiatischen Mittelmeerküste die geistige und wirtschaftliche Metropole Griechenlands geworden - und nicht Athen. Die Weltgeschichte wäre anders verlaufen. Milet hatte 100 Kolonien,
die sich bis ans Schwarze Meer ausgedehnt hatten; die Kolonien zeugten von unserer wirtschaftlichen Macht und dem Reichtum unserer Stadt. Vier Häfen bewältigten den Handel vom Kaukasus bis nach
Ägypten. Meine Heimatstadt an der Mündung des Flusses Mäander war zu meiner Zeit die Metropole der Welt, die bereits auf eine 2.500 Jahre andauernde Geschichte zurückblicken konnte. Das ist ein so
langer Zeitraum, wie der, der uns beide trennt.“
„O.k., ich habe verstanden, Du bist ein Kosmopolit und hältst Dich für ebenso wichtig, wie deine beiden Landsleute aus Milet, die eine Generation vor die lebten. Aber
was ist Dein philosophischer Beitrag?“
„Für mich ist der Urstoff nicht das Wasser, wie es Thales sagte, sondern die Luft. Es ist doch ganz einfach und einleuchtend. Die Seele ist Luft. Das Feuer ist verdünnte
Luft; aus verdichteter Luft wird zuerst Wasser und dann bei stärkerer Verdichtung Erde und schließlich Stein.“
„Alles besteht nur aus Luft?“
„Ja, ganz genau. Alles besteht aus Luft und Liebe und die Erde ist eine Scheibe, die von Luft umgeben ist.“
„Nicht dass Du Dich damit ins Abseits stellst, wir wissen, das die Erde keine Scheibe ist, damit ist Deine zweite Behauptung anzuzweifeln. Was Deine erste Behauptung
angeht, bin ich mir auch nicht sicher. Was ist nun der Urstoff? Luft oder Liebe?“
„Es ist die Luft, der Hauch, das Flüchtige.“
„Du lebtest am Ende einer hohen kulturellen Entwicklung, denn wie Du sagtest, wurde Deine Heimatstadt zu Deinen Lebzeiten zerstört. Etwas Stärkeres besiegte etwas
Schwächeres. Vielleicht ist auch deine erste Behauptung, dass alles nur aus Luft bestehen soll, nicht mehr als heiße Luft.“