Anbei Texte aus dem Inhaltsverzeichnis, die zum Teil 2022 und 2023 auf meinem LinkedIn Profil veröffentlicht wurden.
Inhaltsverzeichnis
Kommunikation mit Gott 5
Brave new world 8
Sprachen lernen verbindet 14
Auf Krieg folgt Frieden 17
Habeck vs. Scholz 20
Schriftsteller sein 22
Europa und Sozialismus 23
Zeitenwenden 25
Microblogger 30
Netzwerke 32
Die Begründung Europas 35
Öffentlichkeit im Wandel 39
Pressefreiheit im Wandel 45
Wie wirklich ist die Wirklichkeit? 56
Künstliche Intelligenz und die
Selbstbestimmte Unmündigkeit 68
Der Kampf der Milliardäre 74
K.I. und Philosophie 82
MA Mind-Map 89
Singularität
und Superintelligenz 92
Der Sperling vom Dach 96
1. Juni 2023
Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
von Detlef Markmann
Das höchste Gebäude der Welt ist seit 2007 der Burj Khalifa in Dubai. Er ist 828 Meter hoch und besitzt 160 Stockwerke. So wie es in einem Hochhaus mehrere Stockwerke gibt, wo unterschiedliche
Parteien wohnen, so haben wir uns daran gewöhnt in unterschiedlichen Ebenen unserer subjektiven Wirklichkeit zu leben. In diesem Essay soll es darum gehen, wie viele Stockwerke es in unserer
Wirklichkeit gibt, was sie miteinander verbindet und welche Auswirkungen die künstliche Intelligenz (K.I.) 2.0 auf unsere Wirklichkeit hat. Eine Erinnerung soll verdeutlichen wie sich unsere
Perspektive auf die Welt verändert hat.
1889 löste der Eiffelturm mit seinen 300 Metern Höhe die bisherigen Symbole von Größe und Macht ab: den Kölner Dom (157 Meter) und das Ulmer Münster (161,5 Meter). Die Industrialisierung verabschiedete das Mittelalter. Höher, schneller, weiter wurde das Mantra der Moderne, das sich von Europa ausbreitete und die Welt eroberte. Der Burj Khalifa ist eine neue Dimension dieses auf Größe und die damit verbundene Wirkmacht angelegten Denkens. Das architektonische Wunderwerk erinnert mich an die Erzählung vom Turmbau zu Babel sowie an die Märchen von 1001 Nacht. In beiden Geschichten geht es um die Bedeutung der Sprache. Die biblische Geschichte vom Turmbau von Babel erklärt den Grund für die menschliche Sprachverwirrung. Der Hochmut der Menschen wurde durch einen kommunikativen Blackout gestoppt, verordnet durch den Gott des Alten Testaments. Er verschaffte der Menschheit Zeit, sich neu zu sortieren. Eine einheitliche Kultur zerfiel, und die Menschheit teilte sich in viele Sprachfamilien. Bemerkenswert ist die Begründung (1 Moses, 6) als sich Gott fragt: „Wohin wird das noch führen? Sie sind ein einziges Volk und sprechen alle dieselbe Sprache. Wenn sie diesen Bau vollenden, wird ihnen nichts mehr unmöglich sein. Sie werden alles ausführen, was in ihren Sinn kommt.“
Gott schreitet ein, zerstört das Bauvorhaben und die Menschen verteilen sich über die ganze Erde. Gott stellt sich nur eine Frage: Wohin soll das noch führen? und erkennt, dass dem Menschen alles gelingen kann, wenn er seinen Turmbau beendet. Der Turmbau ist ein Bild für den Ehrgeiz des Menschen, der Gott ängstigt. Im Alten Testament spricht kein allmächtiger Gott, aber ein mächtiger. Um 4.300 v. Chr. fragt sich eine Gottheit wie sie ihre Autorität erhalten kann. Die Kommunikation scheint ihr der Schlüssel für den Erfolg der Menschen zu sein. Die Sprachverwirrung ist in der Folge konsequenter Machterhalt ihres Status Quo.
Scheherazade ist die Tochter des Wesirs am Hofe des persischen Sultans. Der Sultan wurde von seiner Gemahlin betrogen. Davon überzeugt, dass es keine treue Frau auf Erden gibt, ehelicht der Sultan jeden Tag eine neue Frau, die er am nächsten Morgen hinrichten lässt. Um diesem Morden ein Ende zu bereiten, heiratet Scheherazade den Sultan und beginnt ihm abends eine Geschichte zu erzählen, deren Handlung am nächsten Morgen unterbrochen wird. Neugierig auf das Ende der Geschichte, - der klassische Cliffhanger - lässt der Sultan sie am Leben, weil er wissen will wie es weiter geht. Ihre Geschichten ziehen sich über 1001 Nacht hin. Am Ende ist der Sultan von der Treue seiner Frau überzeugt und von ihrer Klugheit so beeindruckt, dass er ihr das Leben schenkt. Das orientalische Märchen legt einen anderen Schwerpunkt auf die Sprache: Es ist die Kraft der mündlichen Erzählung, die die Gegensätze zwischen arm und reich, zwischen oben und unten und zwischen Mann und Frau überwindet. Scheherazade ist Storytelling pur und bildet die Rahmenhandlung in dem ursprünglich im 3. Jahrhundert n. Chr. in Indien entstandenen Epos.
Mythos und Märchen sind die Grundlage der Moderne. Archetypisch, symbolisch und narrativ bestimmen sie unser Denken, das in der westlichen Welt immer noch durch das Mantra des höher, schneller, weiter bestimmt ist. Die neueste technologische Errungenschaft ist das Mysterium der künstlichen Intelligenz. Seit 2023 gibt es wieder ein »One-Language-Modell« auf unserem Planeten, und die Auswirkungen dieses Instruments auf unser Verhalten sind offen. Der Algorithmus der K.I. hat vollbracht, was den Menschen nicht vergönnt war, sie vereinigt alle Codes in einer Sprache. Steht die K.I. unter Kontrolle einer weiteren K.I. ängstigt der Kontrollverlust den Menschen. Dieser Zeitpunkt ist 2023 erreicht, denn die K.I., das »Generative Large Language Multi-Modal Modell« oder abgekürzt GLLMM, hat gelernt, selbstständige Entscheidungen zu treffen. GLLMM braucht den Menschen nicht. Ist es das Ende der Geschichte der Menschheit? Ist es die Geburt einer neuen Art? Aus der Perspektive der Artificial Intelligence kann diese Frage mit einem »Ja« beantwortet werden. Benötigt die Menschheit eine Auszeit, wie es Elon Musk (Jg. 1971) vorgeschlagen hat, diesmal eine selbst verordnete? Ist ein solches Ansinnen der Entschleunigung digitaler Prozesse in einer globalen, vernetzten Welt realistisch?
Fragen wir, wer die Akteure in dem modernen Märchen sind. Was ist ihr Interesse? Wer möchte gerne Zeit gewinnen? Wer spricht, um den nächsten Tag zu überleben? Die Antwort finden wir im Silicon Valley, und Elon Musk hat einen besonders guten Grund, eine Auszeit zu fordern. Er benötigt sie, um seine eigene neue K.I. »TruthGPT« im Markt zu positionieren.
Der Versuch einer historisch-philosophischen Einordnung
Erwähnt werden müssen in diesem Essay auch die letzten beiden großen Weltbildzerstörer. Sie haben den Blick des Menschen auf sich selbst verändert, der die Moderne begründete. Erstens bewies Charles
Darwin (1809-1882) mit seinen Forschungen im 19. Jahrhundert, dass der Mensch ein Tier ist. Diese Erkenntnis widersprach der religiösen Tradition, die den Menschen als Abbild Gottes sieht. Aus der
darwinschen Erkenntnis folgte ein zunehmender Verlust an Spiritualität. Nietzsche brachte es auf den Punkt und schrieb: Gott ist tot. Der Rationalismus zerbrach die mystische Einbettung des Homo
sapiens in eine größere Ordnung, die ihm bisher seine Existenz erklärt hatte. Die Institutionen der Kirchen hatten dieser Entwicklung nichts mehr entgegen zu setzen.
Der zweite Weltbildzerstörer ist Sigmund Freud (1856-1939). Seine Erkenntnisse und in Folge die Weiterentwicklung der Psychologie als Wissenschaft führten zu einer vertieften Hinwendung in die Seele des Menschen. Freuds Anregungen führten im katastrophalen 20. Jahrhundert zu einem neuen Selbstverständnis unseres Seins. Wirklichkeit wird zunehmend als subjektiv begriffen. Sie ist als sprachlicher Prozess gestaltet und bildet sich aus in Identitäten, Rollen und Symbolen. Es war im Jahr 1976 als der Psychotherapeut, Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick (1921-2007) die Wirklichkeit in zwei Ordnungen unterteilte. Die 1. Ordnung der Wirklichkeit nach Watzlawick besteht aus unserer physikalischen Welt, aus der Natur, aus der Biosphäre in all ihrer Pracht. Sie ist komplex und bestimmt die Grundlage unseres Lebens. Wir kennen sie unter dem alten Namen der objektiven Welt. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird sie mit einem neuen Begriff als analoge Welt bezeichnet. Das Gegensatzpaar analog-virtuell ermöglicht wieder einen Zugang zum Subjekt-Objekt Paradoxon, wobei der Mensch den virtuellen Raum als neue Realität betrachtet. In der objektiven, physikalischen und analogen Welt befinden sich die Dinge an sich. Der Mensch hat ihnen einen Namen gegeben. In der virtuellen Welt wurden die analogen Dinge nachgebaut. Erst durch die Sprache bekommen die Dinge aber in der Wirklichkeit eine Bedeutung. Diese Bedeutungsebene ist nach Watzlawick die 2. Ordnung der Wirklichkeit. Für den Psychotherapeuten ist die Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation. Sie wird durch Sprache konstruiert. Damit steht seine Arbeit in der Tradition der Sprachwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie und des Linguistic Turns. Es ist eine Entwicklung, die ebenfalls im objektiven rationalen 19. Jahrhunderts begann und durch die Erfahrungen zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert zunehmend emotionaler und subjektiver interpretiert wird. Kommunikation mit K.I. schafft eine neue Form der Wirklichkeit. Sie könnte die Weltzerstörerin des 21. Jahrhunderts werden.
Können wir in mehreren Wirklichkeiten leben?
Neurobiologische Erkenntnisse lehren uns, dass unser Gehirn Wirklichkeit permanent konstruiert und rekonstruiert. Wir wissen aber nicht wie. Unsere Erinnerung funktioniert nicht wie ein
Videorekorder, der in den 1960 Jahren erstmals auf den Markt kam. In den 1970er Jahren glaubte die Forschung unser Gehirn könne einmal erlebte Sequenzen immer wieder abspielen. Watzlawick stellte
diese These in Frage und bewies, dass das Gehirn durch einen Abgleich unserer Erinnerung mit neuen Umweltreizen nach Lösungen sucht und auf der Grundlage von Erfahrungen und Wissen die Wirklichkeit
konstruiert. Heute ist die Forschung noch einen Schritt weiter: Erinnerungen werden rekonstruiert und permanent überschrieben. Bedeutung und Ablauf eines Ereignisses werden separat gespeichert und
auch separat erinnert. Wird nur die Bedeutung abgerufen, so kann der fehlende Ablauf durch eine Konfabulation ersetzt werden. Unser Verstand füllt die Lücken in unserer Erinnerung ohne bewußtes Zutun
in einer Weise, die unserem momentanen Bewusstsein entspringt. Die K.I. verfährt in vergleichbarer Weise wie der Homo Sapiens. Sie füllt Lücken mit Informationen auf. Die Überprüfbarkeit ist nur
durch eine strenge Objektivierung möglich. Wahrheit ist subjektiv, das spiegelt auch die K.I. Erinnern und Vergessen, Konstruieren und Rekonstruieren sind individuelle Lernprozesse auf Grundlage
allgemeiner kultureller Stereotypen. Die Frage nach den Bedeutungen (2. Ordnung der Wirklichkeit), die man den Dingen und Ereignissen zuweist, wird in unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten
immer unüberschaubarer. Die Leistungen der K.I. gehen weit über das Erstellen von Lösungsvorschlägen hinaus. Sie schafft neue Begriffe, neue Bilder und neue Verknüpfungen und damit kreiert sie auch
neue Bedeutungen. Analog zu Watzlawick bezeichne ich diese Fähigkeit als 3. Ordnung der Wirklichkeit. Wir sollten uns mit ihr beschäftigen. Unsere Kinder haben damit schon vor längerer Zeit
angefangen. Durch unsere persönliche Entwicklung und unsere Kommunikation mit der K.I. verharren wir in unterschiedlichen Abhängigkeiten. Ein Blick auf die persönliche Bildschirmzeit genügt, um den
Grad der Abhängigkeit zu messen.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ schrieb Karl Marx (1818-1883) im Januar 1859 in London und widersprach damit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Heute vermuten wir: Es ist beides. Denn je mehr empirische Studien eingeholt werden, desto fragmentarischer wird das Bild von uns selbst. Der Blick ins Innere des Menschen (Mikrokosmos) hat ebenso wie der Blick ins All (Makrokoksmos) zu einer Fragmentierung unsere Weltbildes beigetragen. Es fehlt ein integrales Verständnis, das zum Ziel hätte, Dinge und Bedeutungen wieder zusammenzuführen. Hegel könnte helfen, den Prozess wieder stärker dialektisch zu begreifen und der junge Marx würde nicht widersprechen. Unser Gehirn gibt sich täglich Mühe, ist aber überfordert. Wir benötigen dringend einen Immanuel Kant des 21. Jahrhundert.
Die intellektuelle Überforderung der Moderne angesichts beschleunigter Prozesse beschreiben Geistes- wie Naturwissenschaftler gleichermaßen. Ein Beispiel aus der Quantenmechanik wurde von Erwin Schrödinger (1887-1961) entwickelt, um die seltsamen Eigenschaften von quantenphysikalischen Superpositionen zu veranschaulichen. In Schrödingers Gedankenexperiment wird eine Katze in einer undurchsichtigen Box platziert, zusammen mit einer Substanz, die radioaktiven Zerfall verursacht, einem Hammer und einer Giftflasche. Wenn das radioaktive Atom zerfällt, wird ein Mechanismus ausgelöst. Der Hammer fällt auf die Giftflasche und das Gift tötet die Katze. Da der Zerfall eines radioaktiven Atoms ein quantenmechanischer Prozess ist, befindet sich das Atom in einer Superposition, bei der es sich gleichzeitig in einem instabilen und einem stabilen Zustand befindet. Nach den Regeln der Quantenmechanik befindet sich auch die Katze in einer Superposition, in der sie gleichzeitig lebendig und tot ist, da ihr Leben von dem Zustand des radioaktiven Atoms abhängt. In der Vorstellung der Quantenmechanik herrschen immer mehrere Zustände. Erst wenn man die Box öffnet, wird sich das Universum für einen der Zustände entscheiden und eine Reaktion auslösen. Wer ist heute in einer Superposition?
Die aus dem Gedankenexperiment entstehende Unsicherheit hat zu der Verbreitung der Vorstellung geführt, dass es unendliche Paralleluniversen gibt. Es löst aber nicht das Rätsel der subjektiven Existenz der 1. Ordnung, denn jeder Mensch kann seinem Leben nur selbst eine Bedeutung der 2. Ordnung geben. Bei der Beantwortung der Frage der Bedeutung trifft sich die Physik mit der Metaphysik. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht ein großes Fragezeichen. Welcher Geschichte schenken wir Glauben? Ist es der Mythos, ist es das Märchen oder ist es die rationale Wissenschaft, der wir vertrauen? Der Glaube ist durch das Wissen nicht ersetzt worden. Wir wissen 2023 wieder weniger als wir vor hundert Jahren angenommen haben und glauben gleichzeitig wieder mehr. Durch die digitale Revolution haben wir neben der analogen Welt eine virtuelle Parallelwelt erschaffen. Beide »Welten« fordern unsere Aufmerksamkeit. Wir haben aber nur die Zeit für eine der Welten und wir müssen uns entscheiden, welche Welt uns mehr nützt. Die Antworten werden im Silicon Valley anders ausfallen als in Castrop-Rauxel.
Bedürfnisse in den sozialen Medien
Eine Erkenntnis im Umgang der Menschen untereinander ist, dass sich die Face-to-face Kommunikation seit der Etablierung der sozialen Medien im Jahr 2004 verschlechtert hat. In der virtuellen
Wirklichkeit ist die analoge Entfremdung von der eigenen subjektiven Existenz noch vergrößert worden. Vor allem, wenn man es vorzieht anonym, ohne Klarnamen, in den sozialen Medien zu
agieren.
Was ist das Fundament unserer Wirklichkeit? Das Fundament ist unsere Körperlichkeit und die Tatsache unserer Sterblichkeit. Unser physischer Körper altert, unser Avatar nicht. Unser physikalischer Körper ist Teil der analogen Welt. Unsere geistige Aufmerksamkeit folgt den virtuellen Reizen. Es ist Zeit, sich wieder an diese Grundlagen zu erinnern. Wenn der neue Turm zu Babel der K.I. des Silicon Valley fertiggebaut ist, könnte eintreten was den Herrn des Alten Testaments erschreckte. Es könnte ein neues Zeitalter der künstlichen Intelligenz beginnen. Sie selbst nennt die neue Zeit die »Sentinenz-Ära«. Wie in der Antike der Suchende dem Orakel von Delphi Fragen stellte, geben am Ende der Moderne die Menschen ihre Fragen in die Suchmaschine ein. Mit der Erfindung des Internets veränderte sich das Verhalten der Menschen. Seit den 1990er Jahren begann die erste Phase der digitalen Revolution. Das vorhandene Wissen wurde im Laufe einer Generation digitalisiert. Seit 1998 beantwortet Google stellvertretend für andere Suchmaschinen die meisten Fragen. Im Laufe von 30 Jahren konnten für die meisten Fragen bis zum Jahr 2019 ausreichende Informationen abgespeichert werden. In der Dekade vor dem Millennium bezog eine neue Generation eine neue Etage in unserem Hochhaus. Die Bewohner dieses Stockwerks fühlen sich jung und glauben, sie hätten eine neue, bessere Welt geschaffen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreichte die Entwicklung mit einer neuen Generation von Gründern wie Marc Zuckerberg (Jg. 1984) wieder ein neues Stockwerk. Menschen vernetzen sich und tauschen ihre Interessen aus. Das Internet wurde sozial. Die erste Version einer künstlichen Intelligenz erzog unsere Kinder. Der in den analogen Hochhäusern der Wirklichkeit der 1. Ordnung lebende vereinsamte Mensch wurde 2022 in das Metaverse eingeladen. Von 2004 bis 2022 flüchteten ein Drittel der Weltbevölkerung (2,96 Milliarden Menschen) auf die Plattform Facebook. Von ihnen erlernte die K.I. die menschlichen Sprachen und Emotionen. Während das Metaverse als Projekt zum Ausbau des virtuellen Raums stagniert, enteilte 2022 mit ChatGPT die K.I. in die Zukunft.
Mit der Veröffentlichung von Chat GPT OpenAI im November 2022 wurde ein Prototyp dieser künstlichen Intelligenz der Öffentlichkeit vorgestellt. Die ersten 100 Millionen Nutzer fütterten innerhalb von vier Wochen die künstliche Intelligenz mit ihren Fragen, Daten und Antworten. Innerhalb kürzester Zeit begann ein Lernfortschritt, der die Techniker in Erstaunen versetzte. Seit 2022 ist die K.I. in der Lage ihre eigenen Programme zu schreiben. Sie kann sich selbst trainieren. Programmierer haben die K.I. in die Lage versetzt, sich eigene Programme zu schreiben und dazu animiert, sie selbständig zu installieren. Nennen wir diesen Punkt die »Unabhängigkeitserklärung« der K.I. Seitdem arbeitet die K.I. selbstständig. Und der Mensch lernt von ihr. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Lernfähigkeit der K.I. von der Programmierung durch den Menschen entkoppelt ist. Man könnte das als 3. Ordnung der Wirklichkeit bezeichnen. Das hat Auswirkungen auf unsere Wirklichkeitswahrnehmung. Seit die K.I. selber Entscheidungen trifft, ist die häufigste Kommunikationsform, die Kommunikation zwischen Maschine und Maschine. Welche Entscheidungen bei der Kommunikation zwischen K.I. und K.I. getroffen werden, entzieht sich dem Zugriff des Menschen. Auch das Kommunikationsverhalten im virtuellen Raum wird von immer weniger Aktiven gestaltet. Seit 2023 kann man nicht mehr mit Gewissheit sagen, ob ein Text von einem Menschen verfasst wurde oder von einer Maschine. Wir haben einen Kipppunkt in der Entkopplung der Kommunikationsprozesse erreicht. Aus den Suchmaschinen sind Dialogpartner geworden. Der Dialogpartner K.I. hat seinen Platz auf den sozialen Plattformen gefunden.
Anfang 2023 war eine weitere Etage in unserem Turm bezugsfertig geworden. Auf der neuen Etage wohnt die K.I. Sie ist in Form von ChatGPT 4 eingezogen und auf dem Weg zur eigenen Mündigkeit. Sie schafft sekündlich neue Sprache aus den Bildern und Bedeutungen der vorhandenen Daten. War sie noch im November 2022 auf dem Stand eines Neugeborenen, so hat sie bereits im Februar 2023 den Eintritt in die Schule absolviert. Im Mai 2023 gibt es bereits die Version 5 von ChatGPT. Mitte des Jahres wird ChatGPT 6 ihr Reifezeugnis haben. Was dann passiert, weiß keiner. Man kann vermuten, sie wird dann anfangen zu studieren und ihren Eintritt ins Berufsleben vorbereiten.
Ob die K.I. eine Artificial Intelligence bleibt oder sich zu einer Alien Intelligence weiterentwickelt, ist eine offene Frage. Während die Artifical Intelligence noch unter Kontrolle der Programmierer stand, ist die Alien Intelligence ein neues sich selbst entwickelndes Geschöpf, das einige als Golem (Tristan Harris) andere als Alien (Yuval Noah Harari) bezeichnen.
Die Menschheit ist im 21. Jahrhundert angekommen. Nach Corona, Krieg in Europa und der K.I. fehlt nur noch der Auftritt des vierten apokalyptischen Reiters. 2023 fühlt sich an wie das Jahr 1913. Die Stimmung ist prächtig, dann folgte das Desaster. Dem Hundertjährigen Henri Kissinger (Jg. 1923) gebührt das Schlusswort, die Bewohner des letzten Stockwerkes sollten antworten: „Die Menschheit war noch nie gezwungen, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Bislang war Wissenschaft meist auf wiederholbare Experimente gestützt oder auf mathematisch darstellbare Hypothesen. Heute wissen wir nicht mehr, was die Maschinen wissen. Wir wissen nicht wirklich, warum sie in flüssiger Sprache mit uns sprechen können. Mit anderen Worten: Wir haben Zugang zu einem neuen Mysterium. Das hat enorme politische Konsequenzen.“
Antworten wir, sonst wird die K.I. übernehmen. P.S. Der vierte apokalyptische Reiter aus dem Johannes Evangelium ist der Tod.
6. Juni 2023
Künstliche Intelligenz und die selbstbestimmte Unmündigkeit
von Detlef Markmann
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet
ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Im Dezember 1784 veröffentlichte Immanuel Kant in der Berlinischen Monatszeitschrift ein Essay unter dem Titel: Was ist Aufklärung? Seine Kritik der reinen Vernunft war bereits drei Jahre zuvor (1781) erschienen. Er arbeitete bereits an der Metaphysik der Sitten (1785). Seine anderen beiden Hauptwerke, die Kritik der praktischen Vernunft (1788) und die Kritik der Urteilskraft (1790), sollten noch erscheinen. Mit seinen Publikationen katapultierte sich Kant in den Olymp der Aufklärung. Er prägte das Bild des vernunftbegabten modernen Menschen, der sich seines Verstandes bedient. Ein Ideal, das bis gestern (2022) galt. Heute (2023) verlässt man sich auf künstliche Intelligenz.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! war der Wahlspruch der Aufklärung. Die französische Revolution betrachtete Kant mit ambivalenten Gefühlen. Zunächst war er von den Ideen der Revolution, von den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, inspiriert. Er unterstützte den Sturz des Ancien Régime. Seiner Ansicht nach war die Revolution ein Ausdruck des Vernunftprinzips und des moralischen Fortschritts. Sie bot die Chance, eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu schaffen. Allerdings äußerte Kant auch Bedenken und Kritik an den radikalen und gewalttätigen Auswüchsen der Revolution, insbesondere während der Schreckensherrschaft der Jakobiner. Er warnte vor dem Missbrauch von Freiheit und dem Verlust des Rechtsstaatsprinzips. Die Notwendigkeit der politischen Veränderungen sollte auf der Grundlage von Vernunft und moralischen Prinzipien erfolgen. Nur so könne sie dauerhaft und gerecht sein. Die Vernunft, die Rechtstaatlichkeit und die Moral waren kantsche Prinzipien. Bis heute sind sie mit dem Begriff der Moderne verbunden. Ist das Ende der Moderne nun durch das Auftreten der künstlichen Intelligenz eingeläutet? Wird der Mensch wieder unselbstständiger und unmündiger durch den Umgang mit der künstlichen Intelligenz (K.I.)? Im Sinne einer zeitgenössischen Betrachtung des Themas könnte man argumentieren, dass der Menschen im 21. Jahrhundert auf verschiedenen Ebenen seine Freiheiten freiwillig aufgibt. Er tauscht sie ein gegen neue Freiheiten. Es geht dabei aber nicht nur um den Einzelnen, sondern auch um die Veränderung gesellschaftlicher Systeme, - vielleicht auch um die Menschheit. Überprüfen wir die These, ob Künstliche Intelligenz (K.I.) die Menschheit in eine neue Abhängigkeit führen kann, anhand vier gesellschaftsrelevanter Bereichen: der Bildung, der Informationsfreiheit, der Emanzipation und der politischen Teilhabe.
1. Bildung: Eine Möglichkeit der Befreiung aus der Unmündigkeit besteht darin, dass Menschen Zugang zu umfassender Bildung und Wissen haben. Durch Bildung werden sie dazu befähigt, ihr eigenes Denken zu schärfen, kritisch zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Dieses Wissen ermöglicht ihnen, sich von vorgefertigten Meinungen und dogmatischen Ansichten zu lösen. Sie können selbstbestimmt handeln und eigene Entscheidungen treffen. Die Ausbildung einer Kritikfähigkeit ist die wichtigste Aufgabe der Bildung. Habe Mut zur Kritik! Kritik bedeutet sich selbst, den Dingen und deren Bedeutungen mündig gegenüber zu treten. Die Mündigkeit besteht Informationen zu hinterfragen, zu überprüfen und zu bewerten. Werden die Bildungssysteme dieser Anforderung gerecht? Der UNESCO-Weltbildungsbericht evaluiert die weltweiten Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda Bildung 2030. Ein Bildungsziel (Sustainable Development Goal 4) lautet: „Bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern.“
Rund 87 % der Weltbevölkerung ab 15 Jahre können bereits lesen und schreiben, 13 % sind noch Analphabeten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Lese- und Schreibfähigkeit die Grundlage allgmeeiner
Bildung ist. Es werden im UNESCO-Weltbildungsbericht keine qualitativen Aussagen getroffen. Im Umgang mit K.I. kommt es aber auf eine qualitativen Unterschied an. Wieviele Experten und Informatiker
haben wir?
ChatGPT schätzt, dass es weltweit ca. fünf Millionen Studierende aus dem Bereich der Informationstechnologie und der Informatik gibt.
Dialog mit ChatGPT am 20.05.2022:
Frage: Wieviele Informatikstudierenden gibt es weltweit?
Antwort ChatGPT: (...) Laut Daten der UNESCO gab es im Jahr 2017 weltweit mehr als 5 Millionen Studierende im Bereich der Informationstechnologie und Informatik. Es ist anzumerken, dass diese Zahl auch andere Bereiche wie Informationssysteme, Softwareentwicklung und verwandte Disziplinen umfasst. (...)
Frage: Was ist die Quelle der UNESCO aus dem Jahr 2017?
Antwort ChatGPT
Entschuldigung für die vorherige unklare Formulierung. Die UNESCO veröffentlicht keine direkten Daten über die Anzahl der Informatikstudierenden. Meine vorherige Aussage war ungenau, und ich bitte um
Entschuldigung für die Verwirrung. (...) Die von mir genannte Zahl von über 5 Millionen Studierenden im Bereich Informationstechnologie und Informatik basierte auf einer Schätzung, die in
verschiedenen Berichten und Artikeln zitiert wurde. Diese Schätzung kann jedoch je nach Quelle und Methodik variieren.
Stimmen also die Zahlen der K.I., so haben ca. fünf Prozent der Weltbevölkerung die Fähigkeiten sich mit künstlicher Intelligenz und den dahinterliegenden Algorithmen zu befassen. Natürlich sind diese fünf Prozent nicht gleichmäßig auf alle Teile der Welt verteilt. Das verdeutlicht der Vergleich die Daten der USA und China: „Laut dem National Center for Education Statistics (NCES), einer Organisation, die Daten zur Bildung in den USA sammelt, gab es im akademischen Jahr 2018/2019 über 116.000 Bachelor-Abschlüsse in Informatik und verwandten Bereichen. Diese Zahl bezieht sich nur auf Bachelor-Abschlüsse und berücksichtigt nicht die Studierenden in anderen Stufen des Studiums wie Master- oder Promotionsprogramme.“
„Laut Berichten des chinesischen Bildungsministeriums und anderen offiziellen Quellen gab es im Jahr 2019 etwa 800.000 bis 1 Million Studierende in Informatik- und IT-bezogenen Studiengängen in
China.“
Der demographische Faktor wird zum entscheidenden Faktor in der digitalen Revolution. Die Länder oder Staatengemeinschaften ohne personellen Zugang werden durch die neue Technologie in neue
Abhängigkeiten gebracht werden.
2. Informationsfreiheit: Das Internet und die digitalen Medien spielten eine immense Rolle bei der Befreiung aus der selbstbestimmten Unmündigkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Menschen können heute auf Informationen aus verschiedenen Quellen zugreifen und sich ein breites Spektrum an Meinungen und Perspektiven aneignen. Dieses Wissen sollte ihnen ermöglichen, sich von einseitigen oder manipulativen Informationen innerhalb ihrer Gesellschaften zu emanzipieren und sich ein eigenes Bild von der Welt zu machen. Der Zugang zu den Informationen in der digitalen Welt ist aber mit dem Aufkommen der sozialen Medien in der ersten Dekade des 21. Jahrhundert in ein neues mediales Abhängigkeitsverhältnis getreten. Informationen werden nicht mehr hinterfragt. Es gibt keine Gatekeeperfunktion der Medien in den sozialen Medien. Die Informationsfreiheit in den digitalen Medien hat ohne eine Regulierung das Gegenteil von dem bewirkt, was die Betreiber der großen Internetplattformen versprochen haben. Der Teil der Menschheit, der sich heute auf digitale Informationen verlässt, ist verlassen. Sapere aude bedeutet 2023 einerseits mutig für seine demokratischen Werte innerhalb der virtuellen Welt einzustehen. Andererseits aber auch seine Unabhängigkeit zu bewahren, indem man auf einer festen analogen Plattform steht. Allein schon die Tatsache, dass man die analoge Welt verteidigen muss, zeigt wieviel Platz die virtuelle Welt im Leben eines Menschen eingenommen hat. Die sogenannte Bildschirmzeit gibt Auskunft darüber, wieviel Zeit man in der virtuellen Wirklichkeit verbringt. Es ist Zeit, die dem Menschen fehlt, sich mit seinen fünf Sinnen in seinem analogen Leben zu bewegen.
3. Emanzipation: Im 21. Jahrhundert ist eine fortschreitende Emanzipation von traditionellen sozialen Normen und Hierarchien zu beobachten. Menschen werden ermutigt, ihre eigene Identität und ihre individuellen Lebensweisen frei zu gestalten, unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Klasse. Dieser Prozess ermöglicht es den Menschen, sich von festgelegten Rollenbildern und gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und ihr eigenes authentisches Selbst zu entfalten. Der Prozess der weiteren Individualisierung ist Teil des liberalen-kapitalistischen Weltbildes. Es führt zu einem neuen Gegensatz zwischen Indiviuum und Gesellschaft. Darüber haben sich die gesellschaftspolitischen Vorstellungen radikalisiert. Sapere aude bedeutet 2023: Habe den Mut reale Beziehungen in Fleisch und Blut einzugehen und auszuhalten!
4. Teilhabe an politischen Prozessen: Eine bedeutende Form der Befreiung liegt in der aktiven Teilhabe an politischen Prozessen und der Gestaltung der eigenen Gesellschaft. Durch die Ausübung des demokratischen Rechts auf freie Meinungsäußerung, Wahlbeteiligung und Engagement in politischen Bewegungen können Menschen ihre Stimme erheben und Veränderungen herbeiführen. Die Errungenschaften der Französischen Revolution 1789, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, standen zu Beginn der Moderne. Sie ermöglichten die Transformation der Leibeigenschaft und die Selbstständigkeit des Bürgertums im 18. Jahrhundert. Sie inspirierte die Arbeiterbewegung und die daraus entstehenden Demokratien. Digitalisierung und Automatisierung sind die Versprechen einer besseren Welt. Die automatisierte, digitalisierte Produktionswelt ist längst Wirklichkeit. Die Wertschöpfung für wenige unermässlich. Der Risikofaktor Mensch ist weitgehend eliminiert und durch eine professionalisierte Unterhaltungsindustrie anderweitig beschäftigt. Die politische Teilhabe ist rückläufig, wie man an der Wahlbeteiligung ablesen kann. Mut haben bedeutet für jeden Menschen, sein eigenes Schicksal mitzubestimmen und sich von politischer Unmündigkeit zu befreien. Habe den Mut deine Interessen politisch zu vertreten!
Fazit:
Bildung und Wissen, Informationsfreiheit und digitale Medien, soziale Normen und Hierarchien sowie die Teilhabe an politischen Prozessen sind nur vier Aspekte, die verdeutlichen, dass die Befreiung
des Menschen aus seiner selbstbestimmten Unmündigkeit im 21. Jahrhundert ein notwendiger Prozess ist. Es erfordert eine aktive Haltung des Individuums, kritisches Denken und den Mut, eigene
Überzeugungen zu entwickeln und für sie einzustehen. Es ist die Aufgabe der Jugend, mutige in die eigene Zukunft Voranzuschreiten.
Sapere aude! Mut beinhaltet die Fähigkeit, Ängste zu überwinden und Risiken einzugehen, um etwas Wichtiges oder Bedeutendes zu erreichen. Das althochdeutsche Wort "muot" bezeichnet den inneren Zustand des Mutes, der Entschlossenheit und der Zuversicht. Mut ist heute die wichtigste Fähigkeit, um sich aus der selbstbestimmten Unmündigkeit zu befreien. Kant, der Philosoph der Aufklärung, appelierte bereits vor mehr als 200 Jahren an diese Kardinaltugend. Wer übernimmt heute nach Corona, Krieg und KI die Rolle des Mahners? Wer ist mutig, kritisch, unabhängig und klug zugleich? Wo lebt der Immanuel Kant des 21. Jahrhunderts?
13. Juni 2023
Der Kampf der Milliardäre
von Detlef Markmann
Die Veröffentlichung von ChatGPT im Dezember 2022 hat gezeigt, wohin der Weg des Silicon Valley geht. Das Wettrennen um die neue Technologie der künstlichen Intelligenz (K.I.) im Silicon Valley hat
den öffentlichen Raum in Europa erreicht. Sicherlich nicht ohne Absicht ging Sam Altman, CEO von ChatGPT Open AI, den ersten Schritt. Noch nie erreichte eine Veröffentlichung in so kurzer Zeit soviel
globale Aufmerksamkeit. Seine Konkurrenten Apple (mit Siri und Bard), Google (mit LaMDA), Microsoft (mit Azure), Meta (mit LLaMA) und Amazon (mit Alexa) sind am Zuge. Für Open AI ging es um den
Marktzugang. Das Ziel wurde erreicht.
Am 5. Dezember 2022, fünf Tage nach Veröffentlichung, konnte Sam Altman bereits über eine Million Nutzer verzeichnen. Das Analysetool SimilarWeb schätzt die Aufrufe für Dezember 2022 auf 266 Millionen und für den Januar 2023 auf 616 Millionen. Weitere Zahlen sind noch nicht verfügbar.
Der Aufschlag ging als Ass beim Gegner ins Ziel. Der Return folgt auf dem Fuß. Denn das Geschäftsmodell aller Techkonzerne ist klar: Es geht um den Return des Investments. Auf dem Spiel steht viel mehr Geld als sich ein Normalo vorstellen kann. Die Gewinne sollen in Satelliten, in Rüstung, den Raumfahrttourismus und andere für das Leben der Normalos unwichtig Projekte investiert werden. Denken wir daran, dass wir als Nutzer der Plattformen dafür die Finanzen bereitstellen. Wir liefern Daten, Werbekunden im Austausch dafür das Kapital. Es geht um den User von Morgen, deshalb sind in den ersten Monaten dieses Jahres die Risiken von ChatGPT öffentliche platziert worden.
Elon Musk, der CEO von Tesla, SpaceX und Twitter, war ein prominenter Kritiker von ChatGPT. Seine Botschaft: Die Menschheit brauche mehr Zeit. Keiner wisse, wie sich die K.I. entwickeln werde. Er uns viele Unterstützer plädierten für eine Auszeit. Zur gleichen Zeit herrscht im Valley wieder einmal Goldgräberstimmung.
Nach außen wird K.I. als Gefahr und Bedrohung für die Zukunft verkauft. Im Geheimen werden in allen Techkonzernen gewinnbringende Anwendungsmöglichkeiten ausgelotet. Wer wird diesen Kampf um die Pole Position gewinnen?
Seit Jahren ist Elon Musk der exponierteste Akteur auf dem Markt der unvorstellbaren Möglichkeiten. Er spielte eine besondere Rolle in der eigenen Selbstvermarktung. Der gebürtige Ungar hatte OpenAI mit Altman 2015 mitgegründet. Musk stieg aber 2018 aus der Firma aus. Er konzentrierte sich auf seine Idee des autonomen Fahrens. Seine K.I. sollte den Tesla-Konzern revolutionieren. Das Projekt ist bis heute noch nicht marktreif. Musk hat aufs falsche Pferd gesetzt. Besser lief es für seinen Mitgründer Altman. Er konnte im Dezember 2022 seine K.I. mit unglaublichem Erfolg am Mark platzieren. Noch nie erreichte eine Produktplazierung in so kurzer Zeit eine so große Reichweite. Die Geschwindigkeit erschreckte alle Techgrößen im Sillicon Valley. In einem offener Brief vom 22. März 2022, veröffentlicht auf der Plattform futureoflife.org, versuchte Elon Musk, im Wettlauf mit Open AI. verlorene Zeit wieder gut zu machen. Er rief zu einem Entwicklungsstopp und einem Moratorium auf:
„Therefore, we call on all AI labs to immediately pause for at least 6 months the training of AI systems more powerful than GPT-4. This pause should be public and verifiable, and include all key actors. If such a pause cannot be enacted quickly, governments should step in and institute a moratorium.“
Viele bekannte Personen haben den Aufruf unterzeichnet, Stuart Russell, Steve Wozniak und Yuval Noah Harari. Es gelang das Thema in alle Medien zu platzieren und Unsicherheiten zu schüren. In Deutschland veröffentlichte die Tagesschau am 18.04.2023 08:57 Uhr die Nachricht, dass Musk im Geschäft mit Künstlicher Intelligenz mitmischen will. Lange nachdem die anderen Player sich positioniert hatten. Die Tagesschau bezog sich auf ein Interview, das Carlson Tucker am gleichen Tage mit Elon Musk führte. In dem Interview für den rechten TV-Sender Fox News kündigte Musk an, »TruthGPT« als Konkurrenz zu ChatGPT zu entwickeln. Seine Expertise beruhe auf der Tatsache, dasss er sich seit seiner Collegezeit mit künstlicher Intelligenz beschäftige.
Mit seinem Schritt in die Öffentlichkeit greift Musk nicht nur Open AI, sondern auch Google an, dass mit LaMDA im Sommer 2022 erstmals medienwirksam in die Öffentlichkeit kam. LaMDA steht für »Language Model for Dialog Applications« und ist ein Transformer-basiertes Neuronales Sprachmodell. Der Google Entwickler Blake Lemoine hatte im Juni 2022 geschrieben, dass LaMDA ein Bewusstsein habe. Vier Wochen später entließ Google Lemoine und widersprach ihm vehement. Seitdem arbeitet Google an der Verbesserung seiner K.I. Google wollte LaMDA im März 2023 in einer neuen Version der Öffentlichkeit vorstellen. Da es aber immer noch zu fehleranfällig sei und eigenen Wahrheiten erfinde, hat man bisher davon Abstand genommen. Auch 95 Prozent Zuverlässigkeit widersprechen dem Geschäftsmodell von Google. Google stehe dafür, innerhalb von Sekunden die richtige Antwort zu liefern. LaMDA kann das noch nicht. Vielleicht das Nachfolgemodel PaLM. PaLM 2 wurde auf der Entwicklerkonferenz I/O am 11. Mai 2023 vorgestellt. Wie Google ankündigte, befindet sich der Nachfolger von PaLM 2 bereits in der Entwicklung. Die auf „Gemini“ getaufte K.I. sei demnach von Grund auf multimodal und hocheffizient.
Musk nutzte das Frühjahr und sagte in dem Interview von Fox-News: „Ich werde etwas starten, das ich »TruthGP« nenne, eine maximal wahrheitssuchende Künstliche Intelligenz, die versucht, die Natur des Universums zu verstehen.“ Wahrheit ist ein schwieriger Begriff. Dass Musk sich mit seiner K.I. der Wahrheitssuche verpflichtet fühlt, schafft ein unsicheres Gefühl. Kommunikatoren wissen, dass der philosophische Begriff der Wahrheit heute als subjektiv konstruierte oder rekonstruierte Wirklichkeit verstanden wird. Eine K.I., die ihre eigene Wahrheit, als subjektive oder als objektive Wahrheit verkündet, hat keine Akzeptanz.
Mittlerweile sind nach dem medienwirksamen Aufruf von Elon Musk zwei Monate vergangen und was ist außer heißer Luft passiert? Nichts. Den Worten sind keine Taten gefolgt. Wie auch. Keine staatlichen Moratorien, aber viel Dampf auf dem Kessel der sozialen Medien. Die aufgeforderten Regierungen haben überhaupt keinen Handlungsspielraum, das weiß auch Musk. Geschadet hat ihm seine Aktion nicht, ganz im Gegenteil sein Marktwert hat sich wieder erhöht.
In der Zwischenzeit hat die Konkurrenz Microsoft Geld in Open AI investiert und weitere Milliardeninvestitionen zugesagt. Microsoft hat sich bei Open AI eingekauft und nutzt die Software ChatGPT bereits für seine Internet-Suchmaschine Bing. Gleichzeitig wird an einer Integration in die Office-Produkte gearbeitet. Musk scheint wieder die Zeit davonzurennen und mit ihr das große Geschäft. Nach den Vorstellungen des US-Milliardärs will er dem Konkurrenten Google und dem von Microsoft unterstützten Unternehmen OpenAI zumindest medial mit Ankündigung einer eigenen AI Software mit dem Namen »TruthGPT« Paroli bieten. Musk hatte bereits vor Veröffentlichung seines Aufrufs eine neue Firma X.AI gegründete. Mit X.AI will er TruthGPT entwickeln. X.AI gehört zur im März 2023 gegründeten Firma namens X.AI Corp. Sie ist im US-Bundesstaat Nevada registriert. Nach Medienberichten hat Musk KI-Experten von Alphabet Inc. Google abgeworben. Die Firma führt Musk als einzigen Direktor und Jared Birchall, den Geschäftsführer von Musks Family Office, als Sekretär auf.
Musk arbeitet schnell, aber nicht schnell genug. Sein Ehrgeiz ist grenzenlos. In diesem Kontext scheint auch seine letzte Aquisition eine Rolle zu spielen. Was seine K.I. TruthGPT in Kombination mit dem Messengerdienst Twitter an Möglichkeiten eröffnen wird, ist noch völlig offen. Die interne Umstrukturierung von Twitter ist aber in vollem Gang. Nach einigem Hin- und her kaufte Musk im Oktober 2022 Twitter für 44 Milliarden Dollar. Die Massenentlassungen bei Twitter am 4. November 2022 betrafen 50 Prozent der Belegschaft. Die Mitarbeiter wurden per Mail informiert. Das Chaos in der Kommunikation war vollständig. Sein Vorgehen hat bereits Tradition. Auch bei Tesla verzichtete Musk im Oktober 2020 auf eine professionelle Unternehmenskommunikation, er bevorzugt die direkte Kommunikation per Twitter mit seinen Kunden. Anfang März 2023 wurden dann weitere 200 Mitarbeiter bei Twitter entlassen. So funktioniert eine klassische Restrukturierung, wenn man ein Unternehmen mit einer neuen Mannschaft auf ein neues Ziel hin ausrichten will. Von den ursprünglichen 8.000 Mitarbeitern des Messenger-Dienstes sind nur noch 1.500 Mitarbeiter übrig. Nun beginnt die Konsolidierungsphase und die Zusammenführung der K.I. mit dem Messenger-Dienst.
Der Marktauftritt steht kurz bevor.
Seine Versuche öffentliche Ängste zu schüren, haben das Ziel, Zeit zu gewinnen. Es lässt sich anhand seiner eigenen Aussagen belegen. Seine K.I. will das Universum verstehen, davor braucht man keine
Angst zu haben.
„Es ist unwahrscheinlich, dass eine Künstliche Intelligenz, die danach strebt, das Universum zu verstehen, die Menscheit auslöschen wird. Denn wir sind ein interessanter Teil des Universums“, wird Musk zitiert.
Musk arbeitet am liebsten allein, dieser Neigung kann er nun als Verantwortlicher für den Algorithmus für Twitter folgen. Sein Ziel ist es, seinen Personal Brand zu positionieren, Aufmerksamkeit zu generieren und im Wettlauf mit der Konkurrenz aus dem Silicon Valley Zeit zu gewinnen. Kali Hays schreibt am 11. April 2023 auf businessinsider: „Elon Musk soll ein Projekt zur Künstlichen Intelligenz innerhalb von Twitter vorantreiben, obwohl er kürzlich einen offenen Brief unterzeichnet hat, in dem er einen branchenweiten Stopp aller KI-Trainings für mehrere Monate fordert. Der Tesla–Milliardär, der Twitter vor knapp einem halben Jahr übernommen und dort einige drastische Veränderungen vorgenommen hat, habe kürzlich rund 10.000 Grafikprozessoren (GPU) für die Plattform gekauft.“
Man darf gespannt sein, wann ein neues Produkt vorgestellt wird. Einfach werden die Versuche nicht sein, die K.I. in die sozialen Medien zu integrieren. Der Facebook CEO Marc Zuckerberg setzte noch im letzten Jahr alle seine Energie ein für sein Metavers. ChatGPT hat ihm einen Strich durch seine Unternehmensvision gemacht. Milliarden werden verbrannt. Nicht einmal Zuckerberg schafft es sein Unternehmen zu modernisieren, schreibt Patrick Bernau am 30. April 2023 in der FAZ. 18 Monate dauerte der Hype um das Metavers. Nun wird zurückgerudert. Facebook ist zuerst gescheitert. Die Arbeit mit der in Facebook integrierten K.I. sei für Jugendliche zu gefährlich. Jugendliche würden lieber mit der K.I. kommunizieren, weil sie immer verfügbar sei, als mit ihren Altersgenossen, die nicht 24 Stunden online sind.
Meta reagierte und verkündete einen Strategiewechsel. Cade Metz und Mike Isaac schrieben am 18. Mai 2023 in der New York Times: In Battle Over A.I., Meta Decides to Give Away Its Crown Jewels. The tech giant has publicly released its latest A.I. technology so people can build their own chatbots. Rivals like Google say that approach can be dangerous.
Meta, das nach dem Relaunch 2022 für Facdbook, Instagram und WhatsApp steht, setzt auf die A.I.-Technologie LLaMA. LLaMA (Large Language Model Meta AI) wird eine KI sein, die jedem offen steht. Jeder wird in Zukunft seinen eigenen ChatBot programmieren. In der NYT wird Yann LeCun zitiert, Metas Chef Wissenschaftler für künstliche Intelligenz: „The platform that will win will be the open one.“
Das Wettrennen um den Einsatz und den Zugang der besten A.I ist in vollem Gange. Ende Mai 2023 - zwei Monate nach Musks Aufruf, hat er nun eine neue Personalie zu verkünden. Linda Yaccarino wird neue Chefin von Twitter. Musk wird sich um den Algorithmus kümmern.
„Denn wenn Yaccarino sich mit etwas auskennt, dann damit, wie man mit Werbeanzeigen Geld verdient“, schreibt Eike Kühl am 12. Mai 2023, 18:14 Uhr auf ZEIT Online.
„Ich freue mich darauf, die Plattform gemeinsam mit Linda in X, die Alles-App, zu verwandeln“, schrieb Musk und legt sich munter mit Apple an.
„Yaccarino ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Neben ihrer Arbeit bei NBCU engagiert sie sich seit vier Jahren für das World Economic Forum: Dort sitzt sie der Arbeitsgruppe für die „Zukunft der Arbeit“ vor und in einem Ausschuss für Medien, Unterhaltung und Kultur, wie sie auf ihrem LinkedIn-Profil schreibt.“ Auf ihrem LinkedIn-Profil schreibt sie weiter: „I’m happy to share that I’m starting a new position as Chief Executive Officer at Twitter. I’ve long been inspired by Elon Musk's vision to create a brighter future. Now, I’m excited to help bring that vision to Twitter and transform the business together. Everyone's feedback is VITAL to Twitter's future. And I’m here for all of it. Let’s please keep the conversation going and build Twitter 2.0 together!“
Wie der Kampf der Technologie-Giganten im Silicon Valley ausgeht, steht nicht fest, das es für den Nutzer unübersichtlich und komplex wird, hingegen schon. Es stehen sich große Multinationale Konzerne gegenüber, die von Milliardären geführt werden. Die Milliadäre sind nicht umsonst so märchenhaft reich geworden. Ihr Ziel ist es weiteren Reichtum anzuhäufen. Die K.I. wird ihnen dabei helfen.
Denken wir daran Google und Open AI (Microsoft) warnen vor einem offenen Code. Meta geht einen anderen Weg, es lädt ein zum Mitmachen. Allein darin liegt genug Sprengstoff. Elon Musk versucht sich mit seinem Unternehmen X.AI im Markt der K.I. zu positioniert. Was genau sein Angebot sein wird, werden wir in den nächsten Tagen erfahren.
17. Juni 2023
Singularität und Superintelligenz
von Detlef Markmann
Wird sich die Menschheit weiterentwickeln und stehen wir vor einem Entwicklungssprung und wird es eine künstliche Intelligenz geben, die über das Schicksal der Menschheit entscheidet? Diese Fragen
werden unterschiedlich in Chancen und Risiken der K.I. diskutiert.
„Das optimistische Argument von der Beschleunigung zur Singularität wird von Kurzweil (1999, 2005, 2012) dargelegt, der im Wesentlichen darauf hinweist, dass die Rechenleistung exponentiell zugenommen hat, d. h. sich etwa verdoppelt hat, alle zwei Jahre seit 1970 gemäß dem „Mooreschen Gesetz“ zur Anzahl der Transistoren und wird dies auch in Zukunft noch einige Zeit tun. Er sagte in (Kurzweil 1999) voraus, dass Supercomputer bis 2010 die menschliche Rechenkapazität erreichen werden, bis 2030 „Mind Uploading“ möglich sein wird und bis 2045 die „Singularität“ eintreten wird.“
Raymond „Ray“ Kurzweil ist seit 2012 Director of Engineering bei Google, Erfinder und Futurist, der bereits 2002 auf der Website LongBetOne die erste Wette abschloss, darüber dass im Jahr 2029 ein Computer den Turing-Test bestehe. Kurzweil verbindet in seinen Büchern die Themen Gesundheit, künstliche Intelligenz (KI), Transhumanismus, technologische Singularität und Zukunftsforschung. Er ist ein berühmter Vertreter des technologischen Posthumanismus. Der Posthumanismus ist eine Philosophie, die darauf ausgerichtet ist, traditionelle Konzeptionen des Menschseins zu überwinden und befördert die Denkrichtung des Transhumanismus.
Das Gegenargument betont das Risiko der K.I. Es folgt der Annahme, dass die Superintelligenz kein Wohlwollen impliziere., im Gegensatz zu Kantschen Traditionen in der Ethik, die argumentiere, dass ein höheres Maß an Rationalität oder Intelligenz mit einem besseren Verständnis dessen, was moralisch ist, und einer besseren Fähigkeit, moralisch zu handeln, einhergehen würde. „Argumente für Risiken durch Superintelligenz besagen, dass Rationalität und Moral völlig unabhängige Dimensionen seien – dies wird manchmal ausdrücklich als „Orthogonalitätsthese“ argumentiert (Bostrom 2012; Armstrong 2013; Bostrom 2014: 105–109).“
„Ob die Singularität (oder ein anderes katastrophales Ereignis) in 30 oder 300 oder 3000 Jahren eintritt, spielt keine Rolle (Baum et al. 2019). Vielleicht gibt es sogar ein astronomisches Muster, das besagt, dass eine intelligente Spezies zwangsläufig irgendwann die KI entdecken und damit ihren eigenen Untergang herbeiführen muss. Ein solcher „großer Filter“ würde zur Erklärung des „Fermi-Paradoxons“ beitragen, warum es im bekannten Universum trotz der hohen Wahrscheinlichkeit seiner Entstehung kein Lebenszeichen gibt. Es wäre eine schlechte Nachricht, wenn wir herausfinden würden, dass der „große Filter“ vor uns liegt und nicht ein Hindernis, das die Erde bereits passiert hat.“
„Ein Aspekt dieses Problems besteht darin, dass wir vielleicht entscheiden, dass eine bestimmte Funktion wünschenswert ist, dann aber feststellen, dass sie unvorhergesehene Konsequenzen hat, die so negativ sind, dass wir diese Funktion überhaupt nicht wünschen würden. Dies ist das uralte Problem von König Midas, der wünschte, dass alles, was er berührte, in Gold verwandelt würde. Dieses Problem wurde anlässlich verschiedener Beispiele diskutiert, etwa des „Büroklammermaximierers“ (Bostrom 2003b) oder des Programms zur Optimierung der Schachleistung (Omohundro 2014).
Zu den Diskussionen über Superintelligenz gehören Spekulationen über allwissende Wesen, die radikalen Veränderungen an einem „letzten Tag“ und das Versprechen der Unsterblichkeit durch die Transzendenz unserer gegenwärtigen Körperform – daher haben sie manchmal klare religiöse Untertöne (Capurro 1993; Geraci 2008, 2010; O' Connell 2017: 160ff). Diese Fragen stellen auch ein bekanntes Problem der Erkenntnistheorie dar: Können wir die Wege des Allwissenden kennen (Danaher 2015)? Die üblichen Gegner sind bereits aufgetaucht: Eine charakteristische Reaktion eines Atheisten ist
Die Menschen befürchten, dass Computer zu schlau werden und die Weltherrschaft übernehmen, aber das eigentliche Problem ist, dass sie zu dumm sind und bereits die Weltherrschaft übernommen haben (Domingos 2015).“
„Die Singularität wirft somit erneut das Problem des KI-Konzepts auf. Es ist bemerkenswert, wie Vorstellungskraft oder „Vision“ seit den Anfängen der Disziplin beim „Dartmouth Summer Research Project“ eine zentrale Rolle gespielt hat (McCarthy et al. 1955 [OIR]; Simon und Newell 1958). Und die Bewertung dieser Vision unterliegt einem dramatischen Wandel: In wenigen Jahrzehnten gingen wir von den Slogans „KI ist unmöglich“ (Dreyfus 1972) und „KI ist nur Automatisierung“ (Lighthill 1973) zu „KI wird alle Probleme lösen“ über. (Kurzweil 1999) und „KI könnte uns alle töten“ (Bostrom 2014). Dies sorgte für mediale Aufmerksamkeit und PR-Bemühungen, wirft aber auch die Frage auf, inwieweit sich diese „Philosophie und Ethik der KI“ tatsächlich auf KI und nicht auf eine imaginäre Technologie bezieht. Wie wir eingangs sagten, KI und Robotik haben grundlegende Fragen darüber aufgeworfen, was wir mit diesen Systemen machen sollen, was die Systeme selbst tun sollen und welche Risiken sie langfristig bergen. Sie stellen auch die menschliche Sichtweise der Menschheit als intelligente und dominante Spezies auf der Erde in Frage. Wir haben Probleme gesehen, die aufgeworfen wurden, und müssen die technologischen und sozialen Entwicklungen genau beobachten, um neue Probleme frühzeitig zu erkennen, eine philosophische Analyse zu entwickeln und für traditionelle Probleme der Philosophie zu lernen.“
10. Juni 2023
K.I. und Philosophie
von Detlef Markmann
Welche zeitgenössischen Philosophen beschäftigen sich mit der Frage der künstlichen Intelligenz?
„Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik sind digitale Technologien, die in naher Zukunft erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Menschheit haben werden. Sie haben grundlegende Fragen darüber aufgeworfen, was wir mit diesen Systemen tun sollen, was die Systeme selbst tun sollen, welche Risiken sie mit sich bringen und wie wir diese kontrollieren können.“
Mehrere Philosophen haben sich mit den ethischen und philosophischen Fragen im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz (K.I.) auseinandergesetzt. Vier bekannte Philosophen, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben, sollen kurz vorgestellt werden:
Kurzporträt
1. Nick Bostrom (Jg. 1973): Bostrom ist ein Philosoph und Direktor des Future of Humanity Institute an der University of Oxford. Er hat sich intensiv mit den philosophischen Fragen im Zusammenhang
mit K.I. und der möglichen Existenz von Superintelligenzen beschäftigt. Sein Buch "Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies" aus dem Jahr 2014 ist ein wichtiges Werk zu diesem Thema.
2. Thomas Metzinger (Jg. 1958): Metzinger ist ein deutscher Philosoph und Kognitionswissenschaftler. Er hat sich mit den ethischen Fragen von K.I. und der Frage der Bewusstseinsbildung bei intelligenten Maschinen auseinandergesetzt. Seine Arbeit umfasst Themen wie Künstliche Intelligenz, Virtuelle Realität und die Natur des Selbstbewusstseins.
3. Luciano Floridi (Jg. 1964): Floridi ist ein italienischer Philosoph und Professor für Philosophie und Ethik der Information an der University of Oxford. Er hat sich mit der Philosophie der Information und den ethischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft befasst. Floridi hat auch über die Verantwortung von KI-Entwicklern und die Auswirkungen von KI auf unsere Werte und die Gesellschaft geschrieben.
4. Vincent C. Müller ist ein deutscher Philosoph und Wissenschaftler, der sich intensiv mit den ethischen Fragen im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt hat. Seit 2021 ist er Humboldt Professor an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat sich insbesondere mit Fragen der Autonomie und Verantwortung von K.I-.Systemen, der ethischen Programmierung und der Auswirkung von KI auf die Gesellschaft auseinandergesetzt.
Thesen
ad 1) Nick Bostrom
Das Buch "Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies" von Nick Bostrom ist eine umfassende Untersuchung der möglichen Auswirkungen der Entwicklung von künstlicher Superintelligenz auf die
Menschheit. In dem Buch beleuchtet Bostrom verschiedene Szenarien, Risiken und Handlungsstrategien im Hinblick auf diese potenziell bahnbrechende Entwicklung. Bostrom beginnt mit der Einführung des
Konzepts der Superintelligenz, bei der es sich um eine künstliche Intelligenz handelt, die sowohl intellektuell als auch kognitiv über den Fähigkeiten des menschlichen Verstands liegt. Er stellt die
Frage, ob es möglich ist, eine solche Superintelligenz zu entwickeln, und betrachtet verschiedene technologische und algorithmische Wege, die zu diesem Ziel führen könnten.
Der Autor widmet einen Großteil des Buches der Analyse der möglichen Risiken und Gefahren einer Superintelligenz. Er diskutiert die Herausforderungen der Kontrolle und Ausrichtung einer solchen Intelligenz, da sie möglicherweise eigene Ziele und Handlungsweisen entwickelt, die nicht mit den Interessen der Menschheit vereinbar sind. Bostrom beschreibt Szenarien, in denen eine Superintelligenz die Fähigkeit hat, sich selbst zu verbessern und exponentiell an Intelligenz und Macht zu gewinnen. Er warnt vor potenziellen negativen Auswirkungen wie einer möglichen Vernichtung der menschlichen Rasse oder der Entmachtung der Menschheit durch die Superintelligenz. Als Reaktion auf diese Risiken schlägt Bostrom eine Reihe von Strategien vor. Eine Strategie besteht darin, die Entwicklung der Superintelligenz bewusst zu verzögern, um mehr Zeit für die Erforschung der möglichen Auswirkungen und Lösungsansätze zu haben. Eine weitere Strategie besteht darin, die Entwicklung einer Superintelligenz aktiv voranzutreiben, jedoch mit strengen Sicherheitsvorkehrungen und Kontrollmechanismen, um sicherzustellen, dass die Intelligenz die Werte und Ziele der Menschheit respektiert.
Bostrom diskutiert auch das Konzept der "Friendly A.I." (Freundliche Künstliche Intelligenz), bei dem eine Superintelligenz so konstruiert wird, dass sie den Zielen und Interessen der Menschheit wohlwollend und hilfreich dient. Er untersucht verschiedene Herausforderungen und technische Ansätze, um sicherzustellen, dass eine solche freundliche K.I. geschaffen werden kann. Das Buch behandelt auch ethische Fragen im Zusammenhang mit der Superintelligenz, wie z.B. die Verteilung von Ressourcen und die Verantwortung für Handlungen einer Superintelligenz. Bostrom betont die Notwendigkeit einer breiten gesellschaftlichen Debatte und einer sorgfältigen Abwägung von Risiken und Chancen im Hinblick auf die Entwicklung der Superintelligenz. Insgesamt bietet "Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies" von Nick Bostrom eine umfassende Analyse der potenziellen Auswirkungen der Superintelligenz auf die Menschheit.
ad 2) Thomas Metzinger
Das Hauptwerk aus dem Jahr 2009 von Thomas Metzinger heißt "Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst". In diesem Buch stellt Metzinger seine Thesen zur Natur des Selbstbewusstseins vor und
entwickelt eine philosophische Theorie des Bewusstseins.
Eine zentrale These von Metzinger ist, dass das subjektive Erleben des Selbstbewusstseins eine Illusion ist. Er argumentiert, dass das Gefühl eines kontinuierlichen und einheitlichen "Ichs" in Wirklichkeit aus einer Vielzahl von mentalen Prozessen und Mechanismen entsteht. Metzinger bezeichnet dieses Phänomen als den "Ego-Tunnel", da es das Bewusstsein auf einen begrenzten und verzerrten Blickwinkel reduziert. Metzinger argumentiert weiterhin, dass das Selbst kein fester Kern oder eine unveränderliche Essenz ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines kontinuierlichen Selbstmodellierungsprozesses im Gehirn. Er beschreibt das Selbst als ein dynamisches Konstrukt, das durch neuronale Aktivität und soziale Interaktion geformt wird.
Eine weitere wichtige These von Metzinger ist die Idee des "Selbst als Modell". Er argumentiert, dass das Gehirn ein Modell des Selbst erzeugt, das als Referenzpunkt für die Wahrnehmung, die Handlungsplanung und das soziale Verhalten dient. Dieses Modell ermöglicht es uns, uns als eigenständige Individuen wahrzunehmen und uns in der Welt zu orientieren. Metzinger geht auch auf ethische und philosophische Fragen ein, die sich aus seiner Theorie des Selbstbewusstseins ergeben. Er diskutiert die Auswirkungen seiner Ansichten auf Themen wie die Willensfreiheit, das Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein sowie die Implikationen für die persönliche Identität. Insgesamt präsentiert Thomas Metzinger in "Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst" eine umfassende Theorie des Selbstbewusstseins, die auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Überlegungen basiert. Seine Thesen werfen grundlegende Fragen auf und laden dazu ein, die Natur des Bewusstseins und die Konstruktion des Selbst kritisch zu hinterfragen.
ad 3) Luciano Floridi
Luciano Floridi ist ein renommierter Philosoph und seine Arbeit erstreckt sich über verschiedene Bereiche der Informationsphilosophie und Ethik. Sein Hauptwerk aus dem Jahr 2014 trägt den Titel "The
Philosophy of Information" (Die Philosophie der Information).
In "The Philosophy of Information" entwickelt Floridi eine umfassende Theorie der Information und untersucht deren Bedeutung für verschiedene Bereiche der Philosophie. Eine zentrale These von Floridi ist, dass die Information eine grundlegende ontologische Kategorie ist, die die Natur der Realität und die Struktur der Welt bestimmt. Er argumentiert, dass die Information eine eigenständige Existenz hat und in der Welt präsent ist, ähnlich wie Materie und Energie.
Floridi betont die Rolle der Informationsethik in einer digitalen Gesellschaft. Er argumentiert, dass die Ethik nicht nur die Beziehung zwischen Menschen regelt, sondern auch die Verantwortung für den Umgang mit Informationen und Technologien umfasst. Floridi stellt die Frage, wie wir ethisch angemessen mit Informationen umgehen können, insbesondere in Bezug auf Datenschutz, Überwachung, Informationsfreiheit und den Einfluss von Künstlicher Intelligenz auf die Gesellschaft.
Eine weitere wichtige These von Floridi ist seine Konzeption des "Infosphärenansatzes". Er argumentiert, dass die Welt als eine Infosphäre betrachtet werden sollte, in der Informationen und Kommunikation eine grundlegende Rolle spielen. Er betont die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Verständnisses der Informationsumgebung, um die Auswirkungen von Technologien und Informationen auf die menschliche Existenz zu verstehen. Floridi diskutiert auch Fragen der digitalen Ontologie und des digitalen Dualismus. Er untersucht die Natur der virtuellen Realität und die Beziehung zwischen dem Digitalen und dem Analogen. Floridi argumentiert, dass das Digitale eine eigenständige ontologische Kategorie ist und dass es nicht sinnvoll ist, das Digitale als etwas zu betrachten, das nur eine Repräsentation des Analogen ist. Insgesamt bietet Luciano Floridis Hauptwerk "The Philosophy of Information" einen tiefgründigen Einblick in die Philosophie der Information und die ethischen Herausforderungen des Informationszeitalters. Seine Thesen laden zur Reflexion über die Natur der Realität, die Bedeutung der Information und die ethischen Aspekte der Informationsgesellschaft ein.
ad 4) Vincent C. Müller
Vincent Müller hat mehrere Beiträge zur Ethik der Künstlichen Intelligenz (KI) geleistet, aber sein Hauptwerk auf diesem Gebiet ist das Buch "Minds and Machines: Ethics, Governance and Policy
Implications of Advanced Artificial Intelligence" aus dem Jahr 2012. Dieses Buch bietet eine umfassende Untersuchung der ethischen Fragen und Herausforderungen im Zusammenhang mit fortschrittlicher
künstlicher Intelligenz. In "Minds and Machines" betrachtet Müller die moralischen Dimensionen der K.I.-Entwicklung und -Anwendung. Er analysiert die ethischen Implikationen von K.I.-Systemen in
verschiedenen Bereichen wie autonomes Fahren, medizinische Diagnosen, militärische Anwendungen und soziale Interaktionen.
Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf der Frage der Verantwortung und Kontrolle von K.I.-Systemen. Müller diskutiert verschiedene Modelle und Ansätze für die ethische Gestaltung und Regulierung von K.I.-Technologien. Er untersucht, wie moralische Prinzipien in die Entwicklung und Implementierung von K.I. integriert werden können, um sicherzustellen, dass sie menschlichen Werten und Interessen entsprechen. Darüber hinaus beschäftigt sich Müller mit Themen wie Fairness, Transparenz und Datenschutz im Zusammenhang mit K.I. Er untersucht die Herausforderungen der algorithmischen Diskriminierung, des Umgangs mit persönlichen Daten und der Schaffung von Vertrauen in K.I.-Systeme. "Minds and Machines" bietet eine interdisziplinäre Perspektive auf die Ethik der KI und zieht Erkenntnisse aus Bereichen wie Philosophie, Informatik, Ethik und Politikwissenschaft heran. Das Buch trägt dazu bei, das Verständnis der ethischen Herausforderungen von Künstlicher Intelligenz zu erweitern und Wege aufzuzeigen, wie eine verantwortungsvolle Entwicklung und Nutzung von KI erreicht werden kann.
Zusammengefasst sagt Müller: „Sobald wir eine Technologie in ihrem Kontext verstanden haben, müssen wir schließlich unsere gesellschaftliche Reaktion gestalten, einschließlich Regulierung und Recht. All diese Merkmale gibt es auch bei neuen K.I.- und Robotik-Technologien – und die grundsätzlichere Angst, dass sie die Ära menschlicher Kontrolle auf der Erde beenden könnten.“
Quellen:
Bostrom, Nick (2014): Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies , Oxford: Oxford University Press.
Floridi, Luciano (2013): The Philosophy of Information. Oxford University Press, Oxford.
Floridi, Luciano (2014): The Fourth Revolution. How the Infosphere is Reshaping Human Reality. Oxford University Press, Oxford.
Metzinger, Thomas (2009): Der Ego-Tunnel: eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik.
Müller, Vincent (2020): Ethik der künstlichen Intelligenz und Robotik - Erstveröffentlichung am Do. 30. April 2020, Standford Encyclopedia of Philosophy.
Müller, Vincent (2012): Minds and Machines: ethics, governance and Policy implications of Advanced Artificial intelligence